Samstag, 28. Juli 2007

DIE RÜCKKEHR DES VERLORENEN VATERS

1948 erst kam mein Vater zurück in die Wohnung in der Kugler Ecke Schönhauser in den nun russischen Sektor Berlins, als die Westsektoren der Stadt nach der Währungsreform für fast ein Jahr von den übrigen Gebieten des sich teilenden Deutschlands abgetrennt worden waren. Lange habe ich gemeint, er sei schon 1947 wieder da gewesen. Aber ich habe in dem Sammelsurium der aus einem Album genommenen, mit der Box geknipsten Kinderfotos, die ich vergrößern lassen wollte und nie zurück geordnet habe, eines, nur eines gefunden, das meine Mutter und mich zeigt. (Es gibt auch ein paar Fotos aus dem Fotografenatelier mit uns beiden, vom Baby, von der Ein-, Zwei- und Dreijährigen mit Mutter, danach erst wieder ein Foto der Sechsjährigen vom Fotografen und eins, das mit der Box gemacht ist im März 1946 in der Wisbyer Straße, in meinem "Tedda"-Outfit mit Fellmütze, kleinem Weißfuchskragen und Muff - woher, warum diese Ausstattung?) Auf dem, das ich hier beschreiben will, stehe ich storchenbeinig da mit hochgesteckten Gretchenzöpfen und in schon wieder zu kurzem Kleidchen. Auf der Rückseite ist in der eckigen Handschrift meiner Mutter mehrerlei zu lesen: "Mai 1948" und "Dieses Kleid nähte ich aus dem abgetrennten Weißen vieler Fahnen." Solche Mitteilung hat nur Sinn, wenn sie an einen gerichtet ist, dem man das nicht sagen kann, weil er nicht da ist, der aber irgendwann zurückgekommen ist und das Foto mitgebracht hat. Mein Vater also und erst 1948. (Woher hatte die Mutter die "vielen" NS-Fahnen bzw. das "Weiße" davon? Vielleicht hatten andere sehr gut "das Rote" davon gebrauchen können, zum Nähen von roten Fahnen mit Hammer und Sichel ...) Außerdem steht da noch auf der Rückseite ein Satz, den die Vorderseite, das Foto selbst also, widerlegt: "Wir blinzeln in die Sonne." Das tun wir aber gar nicht. Vielmehr hält mich, die ich offenbar nicht fotografiert werden wollte, jedenfalls nicht mit ihr, die Mutter an beiden Armen sehr fest. In meinem Gesicht kann man den Widerwillen sehen, nicht ein Blinzeln. Die Füße stehen zum Weglaufen auseinander, und die Finger meiner linken Hand sind in Abwehr weit auseinander gespreizt. Das Foto sagt etwas über Mutter und Tochter aus, das durch einen lügenhaften Kommentar nicht aus der Welt geschafft werden kann: dass ich von ihr nicht gehalten werden wollte. Indirekt sagt es auch, dass die Tochter sich den Vater herbeiwünschte und von ihm erhoffte, er werde sie anders behandeln, als die Mutter es tat, ohne beständig zu meckern. Und er würde überhaupt die drei miteinander zankenden Frauen, denen ich ausgesetzt war, in die Schranken weisen. Er würde so etwas wie Geist mitbringen; das war wohl auch meine Hoffnung. Natürlich war dies kein Wort, das ich damals gekannt habe, aber eine Empfindung und Erwartung solcher Art waren da. Ich hatte ihn ja auch schon kennen gelernt, 1946, als die Eltern sich unter abenteuerlichen Reiseumständen im Rheinland getroffen hatten, um die Zukunft zu beraten. Da hatte ich bemerkt, dass er irgendwie anders war als die Mutter. Er gefiel mir viel besser als sie, meistens jedenfalls. Es war mir aber aufgefallen, dass er manchmal, ohne einen für mich erkennbaren Grund, ungerecht zu mir war. "Jähzornig" nannten das die Erwachsenen, als sei das damit nicht nur erklärt, sondern auch entschuldigt. Ich sehnte mich also nach ihm, aber auf einem Untergrund von Angst.
Was ich von meinem Vater, wäre er wieder da, ganz konkret erhoffte, das war: Er sollte mir Geige spielen beibringen. Denn im Schlafzimmerschrank, versteckt hinter seinen in Berlin aufbewahrten weniger guten Anzügen, hatte ich eines Tages - die Mutter war wohl einkaufen gegangen, was noch immer mit langen Anstehzeiten verbunden war - einen Geigenkasten entdeckt. Vorsichtig nahm ich ihn heraus, denn ich war in der letzten Zeit häufig gescholten worden, weil ich ungeschickt gewesen war, auch Porzellan hatte fallen lassen. Unbotmäßig war ich zudem gewesen, hatte mir eigenmächtig aus meinen zu Tolle und Zöpfen bestimmten Haaren vor dem Spiegel im Flur einen Pony geschnitten. Ein entsetzliches Gezeter samt etlichen Ohrfeigen war gefolgt. Haare gehörten nicht dem Kind, sondern seiner Mutter, und da ein Termin beim Fotografen war vorgesehen gewesen war, kriegte der mich nun mit Tolle und Zöpfen und Ponyfransen vor die Linse. "Wie hässlich du so aussiehst!" hatte die Mutter gesagt, ehe wir losgingen.
Behutsam also setzte ich mich mit der Geige auf die Couch in der Wohnzimmerecke, die mir nachts zum Schlafen hergerichtet wurde, behutsam nahm ich den Geigenkasten auf den Schoß und sah ihn an. Das habe ich jetzt vor dem Schreiben nochmals getan, und so ähnlich wird es damals gewesen sein. Schwarz war er, hatte zwei Steckschlösser, wie ich sie von meinem Schulranzen her kannte, und zwischen ihnen noch ein abschließbares. Kein Schlüssel da, aber der Kasten war nicht versperrt. Zaghaft öffnete ich ihn. Innen waren er und sein Deckel ausgeschlagen mit einem dunkelgrünen Stoff, der sich ähnlich anfühlte wie der von den beiden Hüten meiner Mutter. Filz schien das hier auch zu sein, nur dünner. Im Deckel war eine lange dünne Stange aus Holz eingeklemmt mit harten Haaren drauf gespannt. Es war Platz für noch so ein Ding, aber es gab nur dies eine. Und ein rundes Schild klebte da, darauf stand: "J. Altrichter, Hof-Instrumenten-Fabrik Frankfurt a. d. Oder". Ich merkte es mir, vor allem, weil ich mich wunderte, dass Instrumente wie dies auf Höfen hergestellt wurden. In dem Kasten im grünen Filz lag also das Instrument, die Geige. Ich wusste den Namen, eine Geige war in irgendeinem Buch vorgekommen und abgebildet oder beschrieben gewesen. Oder die Tante hatte davon erzählt. Die Geige war aus braunem Holz, hatte eine sonderbar geschwungene Form, wie ich sie noch niemals gesehen, schon gar nicht angefasst hatte. Oben drauf waren allerlei seltsame Aufbauten, eine schwarze Schale, zwei Stücke schwarzes Holz, über das drei dünne Fäden liefen, die am anderen Ende des Hof-Instruments zu vier drehbaren schwarzen Holzstücken in einer Art Schnecke führten. Ich zupfte daran. Die beiden rechten ergaben schöne, ziemlich hohe Töne, die linke einen dunkleren. Dazwischen, so sah ich dann, fehlte anscheinend so eine Tonschnur. Erschrocken, dass ich diese Töne hervorgebracht hatte, nahm ich nun die Geige ohne den Kasten in meine beiden Hände, hielt sie dann mit der linken fest und fuhr scheu mit den Fingern an ihren so schön geschwungenen Seiten entlang, streichelte die ebenfalls leicht geschwungene glatte Unterseite und führte dann meinen rechten Zeigefinger über die beiden dünnen Linien auf der Oberseite, die die Form der Geige nachzeichneten. In diese Oberseite waren zwei S-artige Löcher geschnitten. Ich versuchte hineinzuschauen und merkte, da innen waren Buchstaben. Dort stand wieder "J. Altrichter" usw. und noch: "Nach Antonius Straduarius gefertigt" und: "anno 1911". Was das hieß, verstand ich nicht.
So ungefähr könnte es gewesen sein, mein erstes zärtliches Erkunden einer Geige. Ich denke, es war noch im Jahr 1946, nach jener Abenteuerreise ins Rheinland. Das Betasten dieses wundervollen Gegenstandes hatte niemand hören können, auch nicht meine Großmutter in der Wohnung unter uns und auch nicht die Untermieter. Ich wollte eigentlich nicht, dass jemand mich und die Geige hörte, aber natürlich war sie dazu da, zum Tönen gebracht zu werden, und da, das ahnte ich, würde ein Problem liegen. Ich zupfte wieder die Saiten, inzwischen weiß ich ja, dass sie so heißen, zupfte mit dem Daumen der rechten Hand und legte die Finger der linken auf verschiedene Stellen, und auch die Töne wurden verschieden. Noch hatte ich aber den Geigenstock, den Bogen, und die Geige nicht zusammengebracht. Ich griff ihr mit der linken Hand an den Hals und drückte sie an meinen und rutschte schließlich mit dem Kinn in die schwarze Vertiefung oben, und der Geigenhals rutschte zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Es war für meine kleinen Hände und Arme alles ein bisschen zu groß, fühlte sich aber richtig an. Vor allem das Kinn schmiegte sich sanft in die schwarze Stütze. Der Bogen gehörte demzufolge in die rechte Hand und war vorn anzufassen, wo mehr Holz war. Ich konnte ihn aber nicht halten, er war mir viel zu lang. Aber er war es anscheinend, der aus den Saiten die Töne herausholen sollte, und so versuchte ich wieder und wieder, ihn über eine Saite zu führen, doch er rutschte jedes Mal schräg weg. Aber er erzeugte dadurch einen Ton. Ich also erzeugte Töne auf einer Geige. Sie waren nicht schön, doch wahrscheinlich konnte ich lernen, schöne Töne auf einer Geige zu erzeugen. Ich hatte ja auch lesen gelernt.
Mein mir kaum bekannter Vater musste das können, schöne Töne auf einer Geige erzeugen, dachte ich, denn wenn meine Mutter es ebenfalls gekonnt hätte, so hätte sie doch sicher mit der Geige gespielt wie ich mit meinem Teddy. Mehr als eigentlich sowieso immer wünschte ich mir, dass mein Vater da sein sollte. Bestimmt würde er mir zeigen, wie ich aus der Geige Töne herausholen könnte. Eine Schwierigkeit war eben nur, dass andere diese Töne auch hören, also wissen würden, was ich konnte oder erst mal noch nicht konnte, und außerdem: was ich empfand. Schon in diesem jungen Alter, mit sechs, sieben, mit acht Jahren oder noch früher, fand ich mich von Personen umgeben, denen ich mein Innerstes nicht öffnete. Von der Rückkehr meines Vaters hoffte ich, dass das mit ihm möglich sein würde. Das war auch so, anfangs, aber sehr lange hielt es nicht an.
Nach dieser ersten beglückenden Entdeckung legte ich die Geige zurück in ihr filzenes Behältnis und klemmte gerade den Bogen im Deckel fest, als meine Mutter ins Zimmer trat. "Du hast Papas Geige genommen", sagte sie unnützerweise, denn das war ja offenkundig, und: "Du kannst doch gar nicht spielen."
"Wenn Papa kommt, wird er es mir zeigen. Ich will es lernen."
"Ja, Papa wird es dir zeigen, wenn er kommt. Jedenfalls, wenn du dich nicht zu dumm anstellst dabei. Aber du wirst das Instrument jetzt zurückstellen in den Schrank und wirst es alleine nicht mehr anrühren. Wenn du es vorher kaputt machst, so wie du immer wieder Sachen kaputt machst, kannst du nicht lernen, darauf zu spielen. Hast du mich verstanden? Ohne deinen Vater wirst du die Geige nicht mehr anrühren."
"Ja, Mutti", sagte ich, denn immerhin redete ich sie damals noch an, klappte den Geigendeckel zu und schloss den Kasten. Dabei bemerkte ich, dass sein Griff umwickelt war mit dem Band einer braunen Zopfschleife, das ich erkannte, umwickelt und das Band grob vernäht mit grauem Zwirn. Das musste meine Mutter an einem Abend gemacht haben, als ich schon schlief. Also hatte sie den Geigenkasten in der Hand gehabt und dann doch bestimmt die Geige auch. Sicher hatte sie dabei an meinen Vater in Rendsburg gedacht.
"Ja", hatte ich gesagt, als sie ihr Verbot aussprach. "Nein", dachte ich. Ich würde dies sonderbare klingende Holz von nun an immer wieder berühren müssen. Schon damit war ich auf Heimlichkeit angewiesen und darauf, gelegentlich mit der Geige allein zu sein. Aber meine Berührung sollte Klänge hervorrufen, und das wären dann eben Klänge, die andere hören würden, aber nicht hören sollten und nach dem Verbot ja auch nicht hören durften. Wie das geschehen konnte, wusste ich noch nicht. Aber ich wollte das Instrument zum Klingen bringen, ehe mein Vater wiederkäme.
"Bitte, Gott", betete ich abends in Gedanken meine Kinderbitte, "mach, dass mein Vater bald zurückkommt." Aber er kam noch nicht, kam nach dem Treffen im Rheinland noch zwei kinderlange Jahre nicht.
Die Geige holte ich trotz des Verbots manchmal heraus, streichelte sie und zupfte leise ihre Saiten in der Vorfreude darauf, dass ich sie zu spielen lernen würde. Sie war für mich das Unterpfand für die Wiederkehr meines Vaters. Es schlich sich aber auch eine Befürchtung ein, dass ich das vielleicht doch nicht können würde, Geige spielen. Hilde Heidbrink nämlich, meine bewunderte ältere Freundin, die im Eckhaus Schönhauser wohnte, hatte mir erzählt, ein Freund ihres Bruders habe Geigenunterricht. Er habe Unterricht bei einem älteren Herrn, der früher zu den Berliner Philharmonikern gehört habe und ihn für sehr begabt halte. Doch er müsse jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden üben. Mein Vater aber hatte all die Jahre, die er fort war, also fast seit meiner Geburt, gar nicht spielen können, überlegte ich. Vielleicht hatte er es verlernt, und dann könnte ich es auch nicht lernen. Geld für Unterricht, das hatte die Mutter gesagt, war nicht vorhanden.
Es gab noch einen anderen Grund für mich, an meiner zuerst so hochgemut angenommenen Lernfähigkeit für die Geige zu zweifeln. Denn in der unteren Wohnung stand ein Klavier, das mein Vater ebenfalls spielen konnte und auch meine Tante Hilde. Natürlich hatte ich das schon als ganz kleines Kind immer mal aufgemacht und auf die Tasten getippt, auch mit den Händen darauf gehauen, war auch mit der kleinen Faust ein paar Mal die Tastatur entlang gewitscht, ehe das für alle Zeit verboten wurde. Aber das waren nur Kindereien, wie wenn ich auf die kleine Trommel schlug, die ich eine Weile hatte und die bald kaputt ging, in der Redeweise meiner Mutter natürlich: die ich bald kaputt gemacht hatte. Erst als ich fragte, warum es schwarze und weiße Tasten gebe und warum die schwarzen höher ständen, bot mir die Tante an, mich Noten zu lehren und kleine Kinderlieder zuerst mit einem Finger spielen zu lassen, dann mit einfachen Akkorden, dann mit kleiner Begleitung der linken Hand. Das lernte ich, langsam, angestrengt und nie so, dass der Erfolg in mehr bestand als darin, die auf Papier gedruckten Noten auf der Klaviertastatur wiederzufinden. Ich spielte langsam, wenn ich die Töne nicht fand, ließ mir falsche, die ich sogar hörte, durchgehen, fand nicht präzise den richtigen Rhythmus und schon gar nichts vom Geist eines kleinen Stücks. Die Tante mochte nicht viel korrigieren, weil das ja auch hieß: wiederholen, und das wieder rief unfehlbar beim Klavier meine Großmutter wie dann später bei der Geige meine Mutter auf den Plan: Das Geklimpere/Gekratze sei den Nachbarn nicht zuzumuten. Von diesen Klavier-Spielereien nahm ich einen ganz massiven Argwohn mit: Wenn schon die mir so schwer fielen. wo doch die Tasten die Töne eindeutig angaben (oder angeben sollten, denn natürlich war das Klavier verstimmt, und Geld für einen Stimmer war nicht vorhanden) - wie sollte ich denn jemals die Töne auf der Geige finden?

Als sich mein Vater tatsächlich ansagte, wirklich nach Hause kommen würde, da schrieb er zugleich in seinem Telegramm, wir sollten nicht etwa zum Bahnhof kommen und dort auf ihn warten. Züge verkehrten noch immer unregelmäßig. Deshalb konnte er nicht einmal den Tag seiner Rückkehr verbindlich nennen. Einen Luxus wie Telefon hatten wir natürlich nicht, bekamen wir erst in Westberlin 1956, und es war natürlich auch dann nicht für Ferngespräche zu benutzen. Allerdings machte das nichts. Meine Familie hatte keine Freunde und mit den meisten Verwandten keinen Kontakt. Mein Vater rief aber nun unregelmäßig seine Mutter an, die seit 1956 ebenfalls im Westen wohnte. Meine Mutter schrieb ihrem rheinischen Bruder und dessen Familie weiterhin seltene, kurze, nichts sagende Briefe und benutzte das Telefon wohl gar nicht. Ich durfte als Schülerin den heiligen Apparat ebenfalls praktisch nicht benutzen, denn mit Klassenkameradinnen konnte ich mich schließlich in der Schule verabreden. Wir hatten das Telefon, weil meine Großmutter das verlangt hatte, als sie spät im Leben noch einmal umziehen musste.
Über alle Maßen aufgeregt war ich, den so lange erwarteten Vater endlich zu sehen, und wollte natürlich die erste sein. Ich nervte die Familie mit Fragen nach etwas, was sie ja selbst nicht wissen konnte: ob er wohl eher am Vormittag käme oder eher am Nachmittag, vielleicht gar nachts, und dass er bitte nicht vormittags kommen sollte, weil ich doch da in der Schule sei, und dergleichen mehr. Wann immer ich da war und nicht ins Bett geschickt wurde, stand ich auf dem Balkon und sah nach dem möglicherweise gerade in jener Minute zurückkehrenden Vater aus.
Und wirklich: Ich war es, die ihn zuerst sah, an einem Sonnabend Nachmittag, am Kantstein des gegenüberliegenden Bürgersteigs stehend, rechts und links je einen holzbeschlagenen Koffer. Ich winkte, und er winkte zurück. Er war es also. Ich raste durch unsere Wohnung und schrie: "Papa ist da!" und raste die Treppe herunter, trommelte mit beiden Fäusten an die Wohnungstür der Großmutter und schrie wieder: "Papa ist da!", rutschte das letzte Stockwerk verbotenerweise auf dem Geländer herunter (verboten, weil es angeblich gefährlich war; in Wahrheit aber war es verboten, weil es schöne Gefühle in der verbotenen Region "da unten" machte), öffnete heftig die Haustür, und da stand er schon auf unserer Seite des Bürgersteigs, und ich sprang auf seine Hüfte und umarmte ihn, er aber stellte mich schnellstens wieder auf die Straße. Denn von oben herab waren inzwischen natürlich eilends Ehefrau, Mutter und Schwester gekommen, diese mit geziemendem töchterlichem Abstand, meine und seine Mutter aber mit dem Versuch, jeweils die erste zu sein und einander zu überholen, was dazu führte, dass sie beide in dem einen zu öffnenden Flügel der Haustür stecken blieben. "Aber Friedel!" rief der Vater von außen, "geh doch zurück!" "Aber Mutter!" rief Hilde von innen und löste die beiden voneinander und aus der Verklemmung in der Tür, indem sie ihre Schwägerin kurz festhielt, so dass die Mutter den Sohn zuerst erreichte und nicht die Ehefrau den Mann. Der legte nur kurz den Arm um beide, denn Familienszenen auf öffentlicher Straße, noch dazu diese komisch-peinliche, waren ihm mit Sicherheit zuwider, und schob sie in den Hausflur. So war mein erster Eindruck vom kommenden Familienleben. Anschaulicher hätte sich die Rivalität der beiden Frauen um denselben Mann mir nicht darstellen können, obwohl ich sie natürlich damals noch nicht wirklich begriff. Hilde umarmte ihren Bruder erst im Hausflur und holte dann die beiden Koffer, die leicht waren. Er hatte nicht viel gesammelt an seinem Interimsort Rendsburg, wo er Arbeit gefunden hatte, nachdem er aus englischer Kriegsgefangenschaft hatte fliehen können. Es waren eigentlich nur die Koffer selber, die er zurück brachte, etwas Wäsche, zwei Hemden vielleicht. Besaß er mehr als den Anzug, den er anhatte? In einem Koffer war die Jacke seiner Marineoffiziers-Ausgeh-Uniform aus schönem blauem Tuch, das meine Mutter später wendete und aus dem sie mir einen Blazer schneiderte, auf den ich sehr stolz war.
Sonst weiß ich nur noch, dass das Begrüßungsmahl mit echtem Bohnenkaffee, sicher von Hilde im Westen schon längst für diesen Tag besorgt und seitdem gehütet, in der Wohnung der Großmutter stattfand. Wie bei Trauerfeiern: Essen als ritueller Weg in ein neues Leben. Wahrscheinlich hat Herbert dann erzählt, ein einziges Mal nur, so jedenfalls erlebte ich es später immer bei außergewöhnlichen Ereignissen, von der Reise vermutlich, vielleicht ein wenig noch von Rendsburg, sicher nicht vom Krieg. Der war vorbei, wenn auch überhaupt nicht mit dem, was er angerichtet hatte. Aber niemand mochte davon mehr sprechen. Die Anstrengung wäre zu groß gewesen, nach dem Über-Leben nun noch davon zu sprechen. Das habe ich erst Jahrzehnte später verstanden.
Wie sich der Vater weiterhin in sein altes Leben wieder einfügte, das doch sein altes Leben gar nicht mehr sein konnte, daran habe ich keine Erinnerung. Sein "Herrenzimmer", von dem ich glaube, dass der Wunsch danach ihn zur Ehe mit dem rheinischen Fräulein geführt hatte, war dahin und blieb es noch auf ein weiteres Jahrzehnt. Die Möbel von drei Zimmern standen nun in zweien, jedenfalls die meisten, weil Untermieter das dritte bewohnten. Von Möbeln hatten sie nur das Nötigste bekommen, einen runden Tisch mit vier Stühlen, den wir nicht brauchen konnten in den zwei Zimmern, das kleinere der beiden Vertikos, einen Schrank von der Großmutter. Einen alten Teppich hatte Hilde besorgt, während in unserem Wohnzimmer zwei übereinander lagen, damit nicht drei Personen den einen davon abtraten. Woher die Schlafgelegenheiten für sie geholt worden waren, weiß ich nicht. Das junge Mädchen, das zuerst allein gekommen war, blieb scheu und hilflos. Von meiner Mutter hatte sie keine Hilfe erfahren, deren Tochter sie doch hätte sein können. Mir war der Umgang mit ihr verboten. Als dann mein Vater gekommen war, gelang es wohl bald, statt der drei Personen, für die das eine Zimmer ja sowieso zu eng war, eine einzelne Untermieterin zu bekommen, die aber nicht lange blieb, und nach einer Pause wieder eine, eine junge Frau aus Erfurt, die schwanger wurde, während sie bei uns wohnte. Um die, seltsamerweise, kümmerte sich meine Mutter. Bis zu unserem Umzug nach Westberlin stand das Zimmer dann wieder leer, wurde aber nicht umgeräumt. In der Zeit, etwas mehr wohl als ein Jahr, habe ich dort geschlafen, und auch meine Kleider hingen dort im Schrank. Als mein Zimmer habe ich es niemals empfunden, habe mich tagsüber nie da aufgehalten und habe auch nie etwas hineingestellt außer vielleicht den Puppenwagen, aber nicht, weil ich mit ihm spielte, sondern damit er aus dem Weg geräumt war, also aus dem allgemeinen engen Wohnbereich. Anderes, das ich hätte hineinstellen können, besaß ich nicht. Die Schulaufgaben machte ich am Schreibtisch des Vaters, und meine wenigen Bücher standen in seinem Bücherschrank. Das Untermieterzimmer war ehemals das Elternschlafzimmer gewesen; das einzige Fenster ging zum Hof, und niemals schien die Sonne hinein. Heimisch fühlte ich mich da nicht, sollte und wollte es auch nicht, weil ja ein nächster Untermieter jederzeit eingewiesen werden konnte.
Mein Vater hat sich mit den reduzierten Wohnverhältnissen schnell arrangiert. Anscheinend konnte er das, der einzelgängerische Bank- und Graphologiemensch. Er hatte sich ja auch mit einem ganzen Krieg arrangiert und war den ihm erteilten Befehlen gefolgt, hatte sich an fremdem Ort eine Arbeit gesucht, und nun in seiner Heimatstadt fand er bald wieder eine, ehe er tatsächlich zur Deutschen Bank zurückkehren konnte, die in Berlin so nicht heißen durfte wegen der Fiktion der gemeinsamen Verwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte, sondern Berliner Disconto Bank hieß.
Ins eheliche Schlafzimmer kehrte er wohl nur zurück, weil es eine andere Schlafmöglichkeit für ihn nicht gab. Sonst habe ich nichts erlebt, das mir erlauben würde, mir das Verhältnis meiner Eltern anders als entfremdet vorzustellen. Niemals habe ich ein Streicheln, eine Umarmung, einen Kuss zwischen ihnen gesehen.

Das Verbindung zwischen meinem Vater und mir aber war zunächst über einige Jahre hin eine enge, in der kindliche Begeisterung für alles, was er tat und was so anders war, als was ich bisher in der Familie kennen gelernt hatte, ihre Rolle spielte, auch meine frühe geistige Wachheit und mein ganz gutes Aussehen gegen Ende der späten Kindheit, so dass ich ihm teilweise die Partnerin ersetzen konnte, die er nie gehabt hatte. Denn ich sehnte mich nach etwas anderem als der Ereignislosigkeit und Dumpfheit, in denen ich bis dahin aufgewachsen war. Nur Schule und Kirche waren andere Lebensformen für mich, jede in ihrer Weise, eine Art von Versprechen deshalb auch, einfach weil es sie gab, dass mein Leben nicht zwangsläufig immer zwischen Streitigkeiten, Rechthabereien und Verboten sich würde abspielen müssen. Und mein Vater fand in mir sicher den verlorenen Sohn wieder. Das konnte ich nicht gewollt haben als das Kind, das ich doch noch war, und konnte es lange nicht mal ahnungsweise erkennen. Ich blieb eine Vatertochter bis in die Pubertät hinein. Danach wurde meine Entfremdung von beiden Elternteilen umfassend, die ihrerseits wie Fremde miteinander umgingen, beinahe stumm.
Des Geigenunterrichts hätte es für das nahe Verhältnis zum Vater gar nicht bedurft. Sogar im Gegenteil, der Unterricht schadete. Die Begeisterung der Sechsjährigen für die schöne Form des Instruments, das sie entdeckt hatte, und ihre anfänglich naive Zuversicht, sie werde einfach lernen, was sie noch nicht konnte, wie das in der Schule für sie so spielerisch leicht war, hatten ja schon Schaden genommen, als ihr selbst das Klavierspiel mit seinen in den Tasten sicher eingebauten Tönen Schwierigkeiten machte. Geigenmusik übrigens kannte sie gar nicht; überhaupt keine Musik. Einen Plattenspieler gab es nicht, und im Radio, noch lange dem billigen Goebbelsschen Propaganda-"Volksempfänger", hörten weder die Mutter noch die untere Familie jemals Musik. Aber sie hatte es dem Vater geschrieben, denn inzwischen konnte sie schreiben in einer ungelenken Erstlingsschrift, dass sie von ihm das Geigenspiel lernen wolle. Er hatte sich gefreut und zugesagt, und so glaubte sie ihre Bitte nicht mehr zurücknehmen zu dürfen.
Was die Tochter nicht hatte wissen können, war, dass es auch auf dem Weg über die Graphologie eine Verbindung zum Vater geben würde, wo sie wirklich so etwas wie seine Mitarbeiterin wurde, und dass sie beide, Vater und Tochter, zusammen etwas erfinden würden, nun ja: nachmachen, eine Sendung des RIAS Berlin, die der Vater "UR-ZI-Sendung" nannte, nach ihrem Namen Ursa Zinke.
Ungetrübt blieb alles nicht, was sie beide zusammen machten, aber sie begannen es mit Begeisterung, vielleicht der Vater, der so spät sein Kind erst kennen lernte, mit noch größerer Freude als die Tochter. Die UR-ZI-Sendung muss von diesen neuen Dingen in der Familie, Graphologie, Geigen- und vermehrtem Klavierunterricht, nun auch vom Vater, die kurzlebigste Veranstaltung gewesen sein. Was geschah dabei? Vater und Tochter überlegten, was sie beide zusammen, einiges auch zusammen mit der Schwester und Tante, der übrigen Familie vortragen konnten. Das waren kleine Klavierstücke (Tante), Stücke für Violine und Klavier (Vater und Tante), auch kleine Stücke für Klavier zu vier Händen (dieselben, aber auch Vater und Tochter), es waren Gedichte, die die Tochter auswendig vortrug. Später dann spielte auch sie kleine Violinstücke, vom Vater begleitet auf dem Klavier, und Vater und Tochter lasen Geschichten aus Büchern vor. Die Tochter schrieb sogar für jedes Treffen einen kleinen Veranstaltungszettel.
Davon hat sich keiner erhalten, obwohl ich sicher bin, diese Zettel gesammelt zu haben. Irgendwann nach meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung, schon in Westberlin, hat man, haben meine Eltern alle meine Unterlagen aus Schule und Universität, die sich noch in ihrer Wohnung befanden, vernichtet, ohne mich zu fragen. Der Bericht der 14-Jährigen über den Umzug nach Westberlin war darunter, ihr erster ernsthafter Schreibversuch, ein "Theaterstück", das sie mit 10 geschrieben hatte und das sogar aufgeführt worden war, ihre Abiturrede und alle Deutschaufsätze. Ein Buch mit den Germanischen Götter- und Heldensagen, das sie als 9-Jährige geerbt hatte und dessen Mythologie, so anders als die christliche, sie faszinierte, hatte ihre Mutter verbrannt, als sie 12 war. Lange begriff sie nicht, dass auch der Vater einverstanden gewesen sein musste.
Am eindrucksvollsten von den UR-ZI-Sendungen blieben in meiner Erinnerung die Gedichte: Rilke, Goethe, Nietzsche, Trakl, nicht Hölderlin. Lange behielt ich auswendig, was ich damals auswendig lernte - und nicht verstand und doch verstand. Heute weiß ich, dass genau dies richtig war: Mir zu lernen zu geben, was die in der Schule gelernten Gedichtlein belanglos erscheinen ließ, Kinderkram, während diese den wunderbaren Geschmack des Geheimnisses enthielten. Nichts hat mich mehr zur liebenden Tochter meines Vaters gemacht als diese Gedichte, Rilkes Karussell und Panther und Herr: Es ist Zeit, Goethes Johanna Sebus, viel mehr aber noch Selige Sehnsucht, Nietzsches Die Krähen schrein. ... und andere. Aber genau an diesem Teil, dem lyrischen, brach die Veranstaltung auseinander. Denn wir brauchten ja Publikum, und das Publikum waren die anderen, die beiden Mütter und, jedenfalls zumeist, auch die Tante. Aber das Publikum merkte die enge Verbindung zwischen den Vortragenden, und es neidete sie, und es kleidete den Neid in Verachtung: Meine Mutter strickte, klapperte mit den Nadeln, ließ Wollknäuel fallen und nicht liegen, meines Vaters Mutter zischte vernehmlich zu ihrer Tochter, dass der Herbert da dem Kind doch viel zu schwere Sachen zumutete. Sie gähnten hörbar, und Hilde, zu beiden Gruppen gehörend, zum Publikum und zu den Vortragenden, gelang es nicht zu vermitteln. Mein Vater sprach scharfe Worte. Nur waren scharfe Worte bloß geeignet, die Situation noch zu verschärfen. Denn es war ja klar: Wir brauchten ein Publikum, das Publikum aber brauchte uns nicht. Im Gegenteil, es langweilte sich und tat die Langeweile kund. Was sollte anderes aus dem allem werden, als dass er und ich weder spielen noch vortragen wollten, vor allem ich nicht; dass es hier zwar einen Anfang gegeben hatte, der aber in dieser Familie nicht fortzuführen war, und dass mein Hass auf meine alles verbietende, alles klein machende Mutter hoch aufloderte. Mir konnte mit neun, mit zehn Jahren nicht klar sein, mit welcher Abmachung, wie ich mutmaße, meine Eltern ihre Ehe geschlossen hatten; mir konnte nicht klar sein, wie der Krieg und die Abwesenheit des Mannes, Sohnes, Vaters in das Leben dieser Familie wie aller Familien eingegriffen hatte (und hier immerhin waren ja weder Leben noch der Verlust von Heimat oder auch nur von wichtigem Besitz zu beklagen); mir konnte nicht klar sein, dass hier die Frauen einer Schwiegerfamilie, selbst von bescheidenem geistigem Zuschnitt, eine Frau gleich bescheidener Ausstattung, die aber ein "Lachtäubchen" gewesen war, in der fremden Stadt im Krieg seelisch allein gelassen und gebrochen hatten. So waren die "UR-ZI-Sendungen", die mein Vater uns erfunden hatte, wohl auch ein Versuch gewesen, die Familie noch einmal einigermaßen zusammenzufügen, auch wohl sein früher innig gewesenes Verhältnis zu seiner Schwester möglichst zu erneuern.
Aber das gelang nicht, und nichts sonst gelang, was schön gewesen wäre, außer eben, einige Jahre lang, zwischen ihm und mir. Oder ich könnte auch sagen: Zu niemandem in dieser viel zu eng aufeinander hockenden Familie war mein Verhältnis so schlecht wie zu meiner Mutter. Denn zusammen mit meiner Tante gab es immerhin die Friedhofsbesuche beim Grab ihres Vaters, meines unbekannten Großvaters. Und bei Großmutter und Tante gab es die ständige Sonnabendabend-Einladung zu Wiener Würstchen und Kartoffelsalat, und ich konnte sie beide immer sehr leicht dazu bewegen, ein wenig von Stargard zu erzählen, allerdings immer dasselbe. Meine Mutter hätte wahrscheinlich liebend gern von ihrer rheinischen Jugend erzählt, aber von ihr wollte ich nichts wissen. Mit dem Trällern von Karnevalsschlagern hörte sie auf, nachdem ich sie spöttisch nachgeahmt hatte.
Mit meinem Vater machte ich drei Besuche in der zerstörten Berliner Innenstadt, die mir tief im Gedächtnis geblieben sind. Diese Besuche erschienen mir schön wie Ausflüge in ein Märchenland, weil es gänzlich ungewöhnlich war, dass sie überhaupt stattfanden, denn eigentlich verließ niemand mit mir die Kuglerstraßengegend. Zugleich waren diese Besuche hoffnungslos bedrückend, weil ich Ruinen ja kaum kannte, und dann doch wieder hoffnungsvoll, weil wir eben dort, inmitten dieser wie tot erscheinenden Innenstadt, das kaufen konnten, was wir brauchten. Im einen Fall war es Papier für die Postwurfsendungen, mit denen der Vater seine graphologischen Gutachten anbot, 1000 Stück auf einmal, wie wir zusammen herstellten. Ich half mit zu falten, in den Umschlag zu stecken, den Brief zuzukleben, die Briefmarke draufzusetzen. Das Papier dafür kaufte er in einer Hinterhoffabrik, die wieder arbeitete. Und ich, die ich doch nur mitgenommen worden war, die ich eindringlich ermahnt worden war, den laufenden Maschinen fern genug zu bleiben, ich durfte andererseits Stapel von Papier anfassen, weißes und zart getöntes, das ist bestimmt wahr, durfte es mit dem Daumen aufblättern und dann wieder zu einem Stapel stauchen. Meine sinnliche Freude am Umgang mit Papier entstand bei diesem Besuch. Und sie war so stark, dass sie mich zu meinem allerersten Schreibversuch anregte, mit dem ich diese sinnliche Freude am Papier zu beschreiben suchte. Ich will annehmen, dass ich den selbst vernichtet habe, weil ich merkte, dass die Worte mein Gefühl nicht annähernd wiedergeben konnten. Vielleicht hat er sich aber doch bei dem erwähnten Theaterstück der 10-Jährigen befunden, das ich, zusammen mit einer Klassenkameradin, im Schulauftrag schrieb. Aufgeführt wurde es sicherlich nicht meinetwegen, sondern weil die andere Monika Reimann war, die Enkelin des westdeutschen KP-Vorsitzenden Max Reimann, dem vielleicht eigentlich diese Aufführung dargebracht werden sollte. Ich stellte die Sonne dar, die im Frühling die Natur zu neuem Leben erweckt.
Dann war ich mit meinem Vater in der daniederliegenden Innenstadt - um eine Geige für mich zu kaufen. Da er entschlossen war, mir Unterricht zu geben, brauchte ich eine, zunächst nur eine Dreiviertelgeige. Wahrscheinlich hat er danach inseriert, und so kamen wir in die Hinterhofwohnung einer alten Frau, die in Ärmlichkeit und Finsternis lebte, der Mann "verschollen", wie die Menschen noch lange sagten, auch wenn sie eigentlich schon 'wussten', dass jemand tot war. Die Kindergeige stammte von einem Sohn, der "gefallen" war, als Hitlerjunge im letzten Aufgebot. Ich erinnere mich noch, dass sie, die sicher sehr einsam lebte, wohl gerne viel erzählt hätte, vor allem natürlich von dem Sohn, der als Kind die Geige gespielt hatte, die sie nun verkaufen musste. Und gern hätte ich länger zugehört, als es die beiden Tassen Kaffee erlaubten, die die Erwachsenen tranken, Muckefuck sicherlich. Aber so war mein Vater auch: Er bezahlte ihr mehr für die Geige, als sie gefordert hatte, aber so schnell es ging, verließen wir die alte Frau. Er hatte wohl schon zuviel Enttäuschungen an Menschen erlitten und weigerte sich seit frühen Jahren, neue kennen zu lernen oder auch nur anzuhören. Wenige waren ihm recht gewesen: der Freund Werner Potrafky, die geliebte Julie, und dann eine Wilma Lembcke in Rendsburg wohl, und ganz spät in seinem Leben ein Bankkollege und Nachbar von schräg gegenüber, der ihn manchmal besuchen durfte und dem er seine graphologischen Gedichte vorlas. Zwei alte Männer saßen dann beisammen, die, sicher ohne dass sie das sagten, einander das Warten auf den Tod ein wenig erleichterten. Zuletzt war ihm noch die Pflegerin seiner letzten Monate recht, Herta Ludwig. Zu ihr hin habe ich einmal ein 'Du' gehört.
Die dritte Art von Besuchen in der Innenstadt, denn diese wiederholten sich, war die schönste: Wir hatten, sorgfältig eingewickelt in Zeitungen, in der Vorweihnachtszeit jeder einige "bunte Teller" dabei und stellten sie in dunklen Hauseingängen auf Treppen. Herbert Zinke, der Einzelgänger seit jeher, der jeder Plauderei abhold war, die er ja hierbei auch vermied, mein Vater, der im Grund seines Herzens sicher ein Ungläubiger war, er setzte zusammen mit seiner Tochter sehr früh im Winter und wohl schon im Jahr seiner Rückkehr vorweihnachtliche Lichter in Ruinenhäuser, in denen vermutlich ja auch Kinder lebten. Nie habe ich ihn mehr geliebt, als wenn wir zusammen diese Gänge machten, 1948, 1949, 1950 mit Sicherheit, vielleicht noch 1951. Auf seine scheue Art war er da vielleicht eine Art Nothelfer. Aber nur nicht sprechen müssen dabei!
Und doch wurde das Verhältnis zu meinem Vater, dem nicht verlorenen, dem tatsächlich zurückgekommenen, der mir innerhalb der Familie das Licht des Geistes angezündet hatte, im Lauf der Jahre eiskalt, und bevor es eiskalt wurde, also doch immerhin beruhigt, ist es durch Höllen von Hass meinerseits und wahrscheinlich unendliche Enttäuschung auf seiner Seite gegangen. Vielleicht bin ich die zweite Liebe seines Lebens gewesen? Mit dem früh, aber eigentlich sanft pubertierenden Mädchen kam er nicht mehr zurecht, das ihn, wie es sein muss, nicht mehr nur bewunderte. Denn es hatte, als es 12 war, in seinem Konfirmandenpastor ein Ideal an Geistigkeit gefunden, vermischt wohl schon damals mit wechselseitigem, wenn auch mir noch kaum fassbaren Begehren. Aber was ich in Johannes' dunklen Augen fand, muss ihm aus meinen dunklen Augen widergestrahlt haben. Und das, denke ich mir, wird auch für meinen Vater in ihnen zu sehen gewesen sein. Das Glück einer verehrenden Liebe, denn die begann damals, ist nicht zu verbergen. Da es eher als diese entstanden war, schützte es auch die im selben Jahr beginnende erst kindliche, dann nicht mehr kindliche Liebe zu Hajo. Und so war die Reaktion des Vaters wohl eine unklare und von ihm aus gar nicht begründbare Eifersucht auf den Pfarrer. Deshalb hatte er auch keinen Beweggrund, mir einen Wechsel des Konfirmandenunterrichts zu verordnen.
Als ich 15 war, habe ich gegen einen längst gefassten Entschluss, dergleichen niemals zu tun, meinem Vater eine flüchtige Verliebtheit mitgeteilt, einen Briefwechsel angekündigt. Diese Mitteilung war, mir völlig klar bewusst, mein letzter Versuch gewesen, Vertrauen zu erwerben, indem ich Vertrauen zeigte. Der Briefwechsel wurde mir verboten. (Ich umging das Verbot mit der Adresse einer Klassenkameradin.) Heute glaube ich, dass mein Vater, der viel zu weit dachte, mich bewahren wollte vor einer Ehe, wie er sie geschlossen hatte, und dass darin sogar noch etwas von seiner Liebe zu mir enthalten war, die aber eine besitzen wollende gewesen sein muss. Danach erfuhren meine Eltern endgültig nichts mehr von meinen Liebesdingen und sonst sowieso und lange schon nur Oberflächliches. Später rannte ich in ein erstes Ehe-Unglück mit einem hochsensiblen Neurotiker, und wir, mein Vater und ich, haben drei Jahre lang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt und danach nur noch einen, in dem er seine bleibende Verletztheit hinter nicht mehr aufzubrechenden Sarkasmen verbarg.
Denke ich aber heute an meinen Vater, der alle seine persönlichen Erinnerungen vor mir vernichtet hat, alle, auch seine Briefe aus den Krieg, so bleibt die schreckliche Äußerlichkeit, dass ich aber die Feldpostnummer weiß, unter der sie geschickt wurden: M (für Marine) 26710. Aber lieber denke ich an den, dem ich auf die Hüfte sprang, als ich ihn auf der Straße vor unserem Haus sah; an den, der mich an meinen Händen fasste und in die Luft schwang, an den, der mich Graphologie gelehrt hat; nicht so gern an den, der mir das Geigespielen beizubringen versucht hat; aber sehr, sehr gern an den, der mir unverständliche Gedichte zugemutet hat im Vertrauen darauf, dass sie mir eben deshalb im Sinn blieben und eines Tages verständlich werden würden; am liebsten aber an den, der mit mir bunte Weihnachtsteller auf dunkle Treppenstufen gestellt hat.

Jetzt beim Schreiben frage ich mich manchmal, ob ich den Geigenunterricht auch dann bekommen hätte, wenn das nicht mein eigener vorwitziger Wunsch gewesen wäre, und glaube: eher nein. Sicher haben Bruder und Schwester ihr Musikmachen als Teil ihrer gemeinsamen Jugend, ihrer gemeinsamen Vergangenheit angesehen, auch als etwas, was sie mit ihrem früh verstorbenen Vater verband, der ihnen gerne zuhörte. Das hat mir die uralte Fiddy erzählt. Die Geschwister hätten das Zusammenspiel nach dem Krieg jedenfalls ohne mich weder aufnehmen können. Das aber hätte in der Familiendynamik bedeutet: Die von außen Gekommene, meine Mutter, wäre wieder ausgeschlossen gewesen. Daher passte es wohl ganz gut, dass ich mir einbildete, ich könne Geige spielen lernen, denn zum mindesten üben konnte ich in unserer Wohnung, allerdings niemals lange. Bald hieß es ja immer: "Die Nachbarn, die Nachbarn".
Und sowieso wurde nichts draus, obwohl sich der Unterricht, einmal angefangen, über nicht weniger als sechs Jahre hinzog. Ich bin ganz einfach musikalisch unbegabt, das ist der wichtigste, der entscheidende Grund. Und bei einem Unterricht des eigenen Vaters konnte aus dem bisschen, was überhaupt werden konnte, nur noch weniger werden, denn einmal ließ er wahrscheinlich vielerlei durchgehen, was ein fremder Lehrer nicht getan hätte, und andererseits übte er selbst nicht. Er spielte vom Blatt, Geige und auch Klavier, und an Beethoven-Sonaten schien er sich zu berauschen. Ich aber habe, aus Mangel an Begabung und bei ihm nicht mehr gelernt, als gedruckte Noten auf dem Instrument wiederzufinden. Und wo sie auf der Geige nun wirklich waren, darüber war ich nie sicher. Das schwierigste, was ich spielte, war die eine der beiden Geigenstimmen zu einem Klavierauszug von Mozarts Kleiner Nachtmusik, wobei die Tante Hilde, auch wohl mehr schlecht als recht, den Klavierpart versah. Jahrelang behielt ich das Trauma, die beiden wären mit Spielen fertig gewesen, ich aber hätte noch drei Takte gespielt. Aber kann das so gewesen sein? Hätten nicht Vater und Tante aufgehört zu spielen, als ich vorweg eilte oder, wer weiß, zurückgeblieben war, es merkte und irgendwas übersprang oder zu überspringen versuchte? Es war jedenfalls nichts mit Zusammenspiel. Ich konnte die anderen Stimmen nicht hören, wenn ich nicht beim Abarbeiten der Noten in der eigenen aus dem Takt kommen sollte. Aber da ich Takt und Rhythmus nicht aus der Musik nahm, die ich hörte, sondern den Takt mit dem Fuß klopfte, konnte das nichts werden. Und je weniger es wurde, um so mehr gaben Vater und Tochter einander die Schuld daran, ohne aber die Kraft zu haben, das scheiternde Projekt so auch zu benennen und aufzugeben.
Das hätte mir jedenfalls ein weiteres, noch schlimmeres Musik-Trauma erspart. Meine Schule in der Scherenbergstraße nämlich und dort meine Musiklehrerin Renate Paschiller und ihr Freund, mein angeschwärmter Deutschlehrer Norbert Rybacki, gründete ein Schulorchester. 1951 oder 1952 mag das gewesen sein. Heute kommt es mir tollkühn vor, denn die Einheitsschule war damals erst 8-klassig, also die ältesten Schülerinnen vierzehn. Immerhin war jedenfalls der Versuch der Orchestergründung möglich. Es gab also in unserer Gegend noch so viel Bürgerlichkeit, dass Kinder privaten Musikunterricht bekamen. Ich wurde zum Mitspielen aufgefordert, ob nach Vorspielen, das weiß ich nicht mehr. Unter den zweiten Geigen saß ich, sagt mein Bildgedächtnis. Natürlich habe ich auch in diesem Kinderorchester auf die Noten gestarrt und nie den Kopf zur Dirigentin erheben können, und ich frage mich, ob ich richtig spielte. Lange habe ich gemeint: So schrecklich daneben müsse ich gespielt haben, dass man mir als Termin einer kleinen Aufführung, für die wir geprobt hatten, absichtlich einen falschen genannt hatte. Denn als ich an einem Sonntag Abend um 18 Uhr mit meiner Geige zur Schule ging, fürchterlich aufgeregt natürlich, da war außer mir kein Mensch zu sehen, der auch dorthin gegangen wäre, und der Hausmeister schloss gerade das Tor. Die Aufführung, sagte er, sei morgens um sechs gewesen. Wahrscheinlich war's ein ruppiger Berliner Hausmeister-Scherz, aber diese Deutung ist mir erst lange danach eingefallen. Mein Vater schrieb der Musiklehrerin einen um Erklärung bittenden Brief, als am nachfolgenden Montag weder sie noch eine der Mitschülerinnen mich gefragt hatten, warum ich zur Aufführung nicht gekommen sei. Die schriftliche Antwort lautete, das "Konzert" sei am Sonnabend Abend gewesen, man habe eine Weile vergeblich auf mich gewartet, und Herr Rybacki habe dann meine Stimme übernommen. Ist es so gewesen? Es klingt wahrscheinlich. Nur ich in meiner Aufregung und Angst hatte mir einen falschen Tag ins Gehirn gesetzt. Über viele Jahre hin habe ich es nicht glauben können, dass der Fehler bei mir lag, und habe an der seelischen Verletzung laboriert. Diese Erinnerung aus der Kinderzeit war, zusammen mit der an die in der Öffentlichkeit der Schule verlorene blutige Binde die, die am längsten brauchte, bis sie mich innerlich nicht mehr verstörte.
Den Musikunterricht aufzugeben, das gelang erst, als wir nach Westberlin gezogen waren und sich dort ein Nachbar fand, der von meinem Geigenspiel gehört hatte und sich anbot, mir kostenlos Unterricht zu geben. Dazu musste ich ihm vorspielen, nicht viel. Denn er hatte zugehört mit mühsam beherrschtem Entsetzen: Die Geige war nicht richtig gestimmt (mein Vater glaubte es noch unmittelbar vor dem Vorspiel getan zu haben); meine Griffe waren allesamt daneben, wie er mir und dem Vater an seinem richtig gestimmten Klavier bewies; an Musikalität und Geist des Spiels fehlte es in jeder Weise. Und es war deutlich, dass das nicht allein an mir lag. Da erst durfte ich aufhören, mit 14 Jahren. - Die beiden Geigen, seine und meine zweite, normal große, habe ich im vorigen Jahr verkauft, mit einiger Wehmut.

Aus meiner Kinderliebe zum zurückgekehrten Vater, der einzigen Person in der Familie, der ich mich verwandt fühlte, wurde ein immer ambivalenteres Verhältnis der pubertierenden und dann ein gänzlich distanziertes der erwachsenen Tochter zu ihm. Er fühlte wohl, dass ich ihm verloren ging. Manchmal muss ich Situationen in der Familie sehr richtig kommentiert haben, so richtig, dass sein Jähzorn ihn überkam und über mich kam und nicht nur seine Hand auf mich losfuhr zu einer Ohrfeige, sondern er mich prügelte in unbeherrschtem Zorn. Aus der Ambivalenz, in der ich die Liebe noch festzuhalten trachtete, deren Verschwinden ich nicht verstand, wurde Hass, als mich der Vater einmal - ich lag auf dem Boden vor seinem/unserem Schreibtisch - schlug, bis die Mutter mich wegzog wie einen geprügelten Hund. Denn auch die teuflische Ausweglosigkeit in meinem Kinder-Leben, erfunden von der Mutter, kannte er sehr wohl: "Hör auf zu heulen, oder es setzt noch mehr."
Unsere graphologische "Zusammenarbeit" hörte natürlich auf über solchem. Für sich hatte der Vater etwas anderes gefunden: eine Verbindung von Graphologie und Gedicht. Denn ähnlich wie er eine gewisse musikalische Begabung ja durchaus hatte, so auch eine "dichterische". Der jambische Rhythmus geriet ihm leicht, und die Reimworte, auf die er nicht verzichtete, fielen ihm nicht zu schwer. Für andere Fälle benutzte er ein Reim-Wörterbuch. Mit dem im Westen beginnenden Wirtschaftswunder wurde die Nachfrage nach graphologischen Deutungen und daran angehängten laienpsychologischen Ratschlägen so gering, dass sich der Aufwand der Postwurfsendungen nicht mehr lohnte. Nun gab es graphologische 'Gutachten' in Form von vier Vierzeilern, gereimt, wie gesagt. Das Material dafür, also die Handschriften, fand er in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften. Eine faksimilierte Unterschrift genügte ihm schon. Er schrieb wohl auch beinahe an jeden, der dort irgendwo erwähnt war, und bat um eine Schriftprobe. Er erhielt sie fast immer, ob es nun die Autogrammkarte eines Filmstars war oder ein kurzer Brief eines gerade berühmt Werdenden oder wirklich Berühmten. Auffällig viele, wie mir schien, suchten den Briefaustausch mit ihm. Aber da blieb er der Einzelgänger, der er immer gewesen war. Zu mehr als dem Zuschicken des entstandenen Gedichts verstand er sich nie.
Diese graphologischen Gedichte schrieb ich mit der Schreibmaschine ab und bekam dafür das einzige Geld, das ich als Kind und Jugendliche je von ihm bekommen habe. Das war nicht mehr Zusammenarbeit, sondern Geldverdienen. 50 Pfennig pro Gedicht. Diese Art der Vermischung von "Dichtung" und Graphologie, immer vier Vierzeiler, selten einmal fünf, verschärften den Dissens zwischen dem Graphologen und seiner heranwachsenden, also auch zu Urteilsfähigkeit gelangenden Tochter. Denn gnadenlos las er sie vor, alle, meiner Mutter und mir, ganz einerlei, ob wir (oder ich) den grapho-Bedichteten kannten oder, der häufigere Fall, nicht. Ohne Selbstkritik, wie mir schien, schrieb er über jeden seine 16 oder 20 Verse, ob ihm nur eine Unterschrift vorlag oder eine ganze Textpartie. Er schrieb 16 Verse auch dann, wenn er die Normschrift nicht kannte, nach der einer schreiben gelernt hatte, die englisch-amerikanische zum Beispiel. Er scheute sich nicht einmal, seine 16 Verse zu produzieren, wenn jemand japanisch oder chinesisch schrieb. Den Streit darüber, ob das verantwortbar sei, dass es nicht verantwortbar sei, wie ich meinte, hielt ich durch, solange ich mit ihm, mit meinen Eltern zusammen lebte, und das war bis zum Ende meines Studiums. (Die Gründe dafür will ich hier nicht aufzählen.) Als ich ihn nach dem Studium und den erwähnten drei Jahren Pause wiedersah, las er aus der damals neuesten Produktion vor, als habe es meine Kritik an seinem unwissenschaftlichen Vorgehen und seine Warnung vor der ersten der beiden misslungenen Ehen nie gegeben, als sei in keinem dieser Bereiche irgendetwas zu besprechen. Mir war das recht so. Mein längst resigniertes bloßes "ja" nach jeder Lesung schien ihn nicht zu kränken. Warum nur hat er überhaupt vorgelesen?
Diese Produktion blieb sein Lebensinhalt, als Bruder und Schwester in getrennten Wohnungen, jeder des Lebenspartners durch Tod beraubt, in gewisser Weise an die Intensität des Umgangs miteinander wie in ihrer Jugend wieder anknüpften, täglich telefonierend. Seit ich aus dem Haus war, hatte die Schwester die Gedichte des Bruders aus seiner schwer lesbaren Handschrift in die Schreibmaschine übertragen. Übrigens will ich nicht verhehlen, dass ich die Handschrift meines Vaters geliebt habe wie nur selten eine andere. Schon als Schulkind habe ich sie mühelos lesen können. Und will auch nicht verhehlen, dass der Vater mir die Entscheidung über seinen literarischen Nachlass abgenommen hat. Sie wäre mir schwierig geworden, denn zum Aufbewahren hätte ich mich nicht gern entschlossen, zum Wegwerfen aber auch nicht. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat ihn, diesen sonderbaren Nachlass, nach Beispielen, akzeptiert, und so liegt er an einem der ehrenvollsten Orte, die in Deutschland Nachlässe bewahren. Aber auch das Folgende will ich nicht verhehlen: Es war ein Irrtum. Denn als über Monate keine Bestätigung kam, als ich dann anrief, da hat mein Gesprächspartner gewagt, mir das zu sagen, die Annahme sei ein Irrtum gewesen, und meiner Bewertung "bizarr" hat er erleichtert zugestimmt. Das Verzeichnis der Nachlässe in Marbach, das man im Internet aufrufen kann, enthält den Namen meines Vaters nicht.

Er ist so einsam gestorben, wie er sich gemacht hatte, sitzend auf seinem Ehebett, das ihm wohl keine Freuden geboten hat. Mich hat er darin gezeugt (den Bruder ja auf der Hochzeitsreise). Vielleicht war ihm das eine kleine Freude. Als er mich kennen lernte, hat er mich geliebt, anders sicher als ich ihn, aber sicher geliebt, und das an Stelle seiner Frau, wie das nicht selten ist zwischen Vätern und Töchtern, wenn die Ehen der Eltern leer geworden oder niemals erfüllt gewesen sind. Aber er hat mich, als ich mit der Pubertät ein eigener Mensch zu werden suchte, nicht vertrauensvoll freigeben können, frei auch für Umwege. So hat er mich ganz verloren.

all rights reservend by Ursula Brauer

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