So, wie ich es hier darstelle, könnte es gewesen sein, dass sie zusammenkamen. Auf andere Weisen, die ich mir aber nicht auszumalen vermochte, könnte es auch gewesen sein. Nur darüber, wie es gewesen ist, weiß ich nichts außer wenigen Brocken. Und eben dies: es ist gewesen, diese Begegnung hat es gegeben, dieser Mann und diese Frau haben geheiratet und zwei Kinder gezeugt.
Ich habe mir mehrere Varianten ausgedacht, in denen sich diese beiden Menschen begegnet wären, aber vermieden hätten, einander näher zu kommen. Jede von ihnen erschien mir einleuchtender als das, was ich schließlich geschrieben habe. Natürlich hätte ich das Thema in diesen Erinnerungen einfach vermeiden können. Aber das wollte ich nicht. Denn eben: Die Begegnung meiner Eltern hat stattgefunden und hat zu einer Ehe geführt, aus der ich entstanden bin. Ich fand mich vor, wuchs heran mit Mutter, Großmutter, Tante, erst spät auch mit meinem Vater. Ich war nicht unglücklich, glücklich aber auch nicht in meiner Familie. Ziemlich früh wusste ich, ein Kind noch, dass ich nicht werden wollte wie sie. Wie das aber anzufangen war, wusste ich nicht. Weite Zukunftsentwürfe machte ich nicht, schon gar keine, hinter denen Entschiedenheit und Kraft gesteckt hätten. Ich fühlte mich wenig wohl bei den "Meinen", aber auch nicht schrecklich unwohl. Immer sind es Begegnungen mit anderen Menschen als ihnen gewesen, die mir einen Zuwachs an Selbstsicherheit und Lebenszuversicht gegeben haben.
Und so vielleicht fanden sich meine Eltern:
An einem Sonntagnachmittag im September oder Oktober 1937 saß eine nicht mehr ganz junge Frau vor dem Café am Dom in Köln bei einem Kännchen Kaffee und einem erstaunlich großen Stück Käsesahnetorte an einem kleinen Tisch und wartete. Es war noch fast sommerlich warm. Das ist einmal so erzählt worden in der Familie, der Ort, die Zeit, das Stück Torte und die Wärme noch spät im Jahr, einige der Sachverhalte, die ich beibehalten muss, weil sie belegt sind. Schwarzhaarig war die Frau, vielleicht wirkte sie südländisch. Sie müsste noch gut ausgesehen haben damals, war noch schlank. Sie wartete, stelle ich mir vor, auf einen Mann, der sich zu ihr setzen, ein wenig mit ihr sprechen sollte, nicht zu viel, nicht zu gescheit, der sie wiedersehen wollte, dann sie heiraten und ihr Leben in seine Hände nehmen sollte. Denn was sie selbst bisher dazu versucht hatte, sich unter die Haube zu bringen, es war alles nicht gelungen, weder ein Urlaubsflirt an der Ostsee, noch ein Tanz auf Schloss Aprath, nicht einmal die wenigen Karnevalsenthemmungen, auf die sie sich eingelassen hatte.
Irgendwann hat die Frau, die meine Mutter wurde, aber den Mann getroffen, dort in Köln, der mein Vater geworden ist.. Besser für beide und für 'mich' wär's gewesen, sie hätten einander nicht getroffen. Oder, wenn doch, dann hätten sie wenigstens nicht heiraten sollen. Niemandem scheint Freude von dieser Ehe her gekommen zu sein. Vielleicht hat das Ehepaar selbst seine Verbindung bald am meisten bedauert. Und ich habe auch genug Anlass, sie zu bedauern. Es will mir ja kaum glücken (glücken?), sie überhaupt erfindend zusammenzubringen. Aber da es mich nun einmal gibt und vor mir einen Sohn gegeben hat, muss es eben doch irgendwann, irgendwie geschehen sein, dass sie zusammenkamen und zusammen blieben.
Der Ort also, das Café am Dom in Köln, ist verbürgt, der Zeitpunkt etwa auch. Dass mein künftiger Vater, ein Berliner, im frühen Herbst 1937 in Köln war, hat seinen Grund in einer Fortbildung gehabt, die er als Angestellter der Deutschen Bank damals machte, wohl vor einer Beförderung. Ob diese weitere Ausbildung nun in Köln oder in Düsseldorf stattgefunden hat, weiß ich nicht. 1961 gab es das nochmals für meinen Vater, eine Fortbildung und danach eine Beförderung, damals in Düsseldorf. Zwischen beiden lag der 2. Weltkrieg und allerlei anderes. Und der Satz meines Vaters zu mir, die ich damals gerade volljährig geworden war, der einzige, den er jemals zu seiner Tochter über seine Ehe gesagt hat, und der hat sich eingebrannt in meine Erinnerung: "Wenn ich nicht sicher wüsste, dass deine Mutter sofort einginge, würde ich mich noch heute von ihr scheiden lassen."
An jenem Herbstnachmittag aber wartete diese Frau nicht vergeblich, so versuche ich mir den Anfang vorzustellen, dem der Mann nicht gewehrt hat. Er kam, korrekt gekleidet mit Anzug und Krawatte, vielleicht direkt vom Bahnhof, der ja gegenüber liegt, zu jenem Café, sah keinen einzelnen freien Tisch mehr und fragte deshalb die nicht mehr ganz junge Frau, ob der freie Platz an ihrem Tisch frei sei. Das galt für höflich so. Nur einen Kaffee wollte er trinken. Aber die Frau, zu der er sich gesetzt hatte, sagte sogleich: "Die Torte ist ganz ausgezeichnet. Sie sollten sie probieren." Da wird er sie wohl nur knapp angesehen und danach in seinen Reiseführer geblickt haben, nicht in die Partie über den Dom, sondern, denke ich mir, in einen Abschnitt über eine der zwölf romanischen Kirchen. Den Dom kannte er schon. Die Dame, denke ich mir weiter, hat sich durch den missglückten ersten Versuch der Kontaktaufnahme noch nicht abschrecken lassen, sondern könnte einen kurzen Dialog mit der Bedienung, als die den Kaffee dann brachte, benutzt haben, das Gespräch fortzusetzen und festzustellen: "Von hier sind Sie nicht. Vielleicht aus der Reichshauptstadt?" Die Frage könnte er dann bejaht und mit der Gegenfrage nach der Herkunft der Dame den begonnenen Dialog höflich weitergeführt haben, auch mit der Absicht, wenn er denn schon reden musste, wenigstens selbst zu bestimmen, über was, möglichst Unverbindliches, was man so redet mit einer Fremden an einem Kaffeehaustisch, wenn man selbst keinerlei weitergehende Absichten hat. Aus dem Bergischen Land sei sie, aus einem kleinen Ort bei der kleinen Stadt Velbert, falls er die kenne, nun aber schon lange in Köln, seit sie 23 sei, Sekretärin beim Rheinischen Haus- und Grundbesitzerverband. Auch das gehört zu dem wenigen mir Bekannten aus ihrem Leben vor ihrer Ehe, wenn auch nicht ihr Alter, als sie nach Köln zog, und vor allem nicht der Grund, warum sie es tat.
Ehe sie sich da aber in Details ihres beruflichen, zuvor gar noch ihres schulischen Werdegangs verlieren konnte (Volksschule, aber mit guten und sehr guten Noten, danach 1 ½ Jahre Handelsschule, ein sozialer Aufstieg also, ihr Vater war Schlosser, aber mit Lehre immerhin), fragte der Berliner: "Wenn Sie schon so lange in dieser Stadt mit den vielen herrlichen Kirchen wohnen, so haben Sie doch sicher eine Lieblingskirche darunter, wenn man so sagen darf, und können mir freundlicherweise sagen, welche." Das war nun nicht ausschließlich freundlich gemeint, denke ich mir. Es sollte die etwas redselige Frau vom sonst wohl allzu weiträumig beschriebenen Feld ihrer offenbar belanglosen Biographie auf ein anderes, anspruchsvolleres lenken, so dass sie entweder mit unerwarteten Interessen und Kenntnissen aufwarten konnte oder, wahrscheinlicher, erkennen lassen müsste, dass sie nichts zu bieten hatte. Dann aber konnte der Mann, den sie, erst mal jedenfalls im Gespräch, festhalten wollte, mit guter und auch nicht unhöflicher Begründung bezahlen, aufstehen und tun, was er an dem Nachmittag tun wollte, eben doch den Dom mehr als nur flüchtig ansehen. Darauf hatte er sich vorbereitet. Von den romanischen Kirchen würden an weiteren Sonntagen einige folgen.
Und richtig: Sie sei nicht katholisch, sagte die Mitteilsame, das sei man im Bergischen Land weniger, sie sei natürlich manchmal im Dom gewesen, weil der doch so ein Wahrzeichen von Köln sei und sogar in Karnevalsschlagern vorkomme, und da sei ja auch der goldene Schrein mit den Gebeinen der ..., der heiligen drei Könige, und sehr schöne bunte Glasfenster und ... Und 'gotisch' heiße der Baustil, fügte sie noch hinzu, die anderen Kirchen aber seien romanisch,. Spitzbogen, Rundbogen der Fenster, habe ihr der Chef mal erklärt, sei zur Unterscheidung wichtig, aber leider, fügte sie listig hinzu, mehr habe er nicht erklärt. Nein, so etwas wie eine Lieblingskirche könne sie also gar nicht haben, weil sie die romanischen ja nicht kenne.
So bald es möglich war, denke ich mir weiter, wird nun der Mann, der dennoch mein Vater werden würde, seinen Kaffee bezahlt, seinen Reiseführer aufgenommen und der Dame an ihrem Tisch noch einen schönen Nachmittag gewünscht haben. Die aber mag dann gesagt haben, mit solchem Umweg könnte die Geschichte weiterkommen, wenn es dem Herrn aus Berlin nichts ausmache, dass sie so ungebildet sei, sich aber gern etwas erklären lasse -, ob denn nicht er ihr den Kölner Dom zeigen wolle.
Nun besaß dieser Mann, der einmal Lehrer hatte werden wollen, durchaus ein Belehrungsbedürfnis und das, so idealistisch war er noch dazu, umso nachdrücklicher, je größer die Unkenntnis war, die es zu beheben galt. Und so gingen das Fräulein Elfriede Holtz und der Herr Herbert Zinke in den Kölner Dom, wo ihr eine immer weiter in die Vergangenheit des Christentums wie auch des Judentums zurückführende Erklärung zu Teil wurde, die ihr Hirn und ihre Füße sehr in Anspruch nahm, aber jedenfalls den ihr sehr gelehrt erscheinenden Herrn an ihrer Seite ließ, bis der späte Nachmittag in einen frühen, aber immer noch ein wenig hellen Abend überging und sie schließlich schicklich die Frage stellen konnte, ob sie den Herrn Zinke nicht zum Dank für die Belehrung zu einem kölschen Abendimbiss einladen dürfe. Vorgestellt hatte er sich, und ihren Namen erfahren hatte er vor der Domführung.
An dieser Stelle könnte es gewesen sein, als er also diese Einladung annahm, dass mein künftiger Vater bereits den entscheidenden Fehler machte. Noch hätte er, mit dem Vorwand, sich für den folgenden Tag vorbereiten zu müssen, oder wie auch immer, sich mit einem nur gesprochenen Dank begnügen und sich verabschieden können. Was mag ihn bewogen haben, das nicht zu tun? Die eigene Lehrhaftigkeit vielleicht, mit der er gerade so gut in Schwung war? Denn Absichten wie die der Kölner Sekretärin, Heiratsabsichten, um es ohne Umschweife zu sagen, die können ihn damals nicht bewogen haben. Einerseits war er von Veranlagung her eher ein Einzelgänger, der lieber seinen autodidaktisch erworbenen graphologischen Studien nachging als, von Ausnahmen abgesehen, Frauen. Dass er das in todtraurigen Gedichten tat und immer erfolglos, muss nicht heißen, dass er es in der Wirklichkeit immerzu tat, aber sicher hat er es auch in der Wirklichkeit getan, und genau so sicher nicht so, dass er ständig seine Nächte schweifend auf den Großstadtstraßen verbrachte. Er hätte sich wahrscheinlich ein Hagestolzenleben mit seiner Mutter oder, lieber noch, mit Mutter und Schwester, gut weiterhin vorstellen können, wäre nicht die Wohnung so eng gewesen.
Andererseits war erst vor wenigen Monaten ein Liebeserlebnis über ihn gekommen, bei dem er wohl die Liebe seines Lebens kennen gelernt hatte. Das gehört zu dem, was mir seine Schwester, meine uralte Tante Hilde, wenige Monate vor ihrem Tod erzählt hat; Lebensbruchstücke, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die einzige Frau sei das gewesen, die ihm, Herbert, in Geist und Seele gleichrangig gewesen sei (ja, so feierlich sagte sie das). Die Tochter eines hohen Vorgesetzten sei Julie gewesen. Auf einer Geselligkeit der Bank habe er sie kennen gelernt, wohin er habe gehen müssen. Aber Herbert hätte ihr, diesem Mädchen, mit seinem Gehalt noch lange nicht den Lebenszuschnitt bieten können, den sie gewohnt gewesen sei. Eine Apanage des künftigen Schwiegervaters habe er nicht angenommen. Herbert habe sich von dieser geliebten Frau getrennt unter tausend Schmerzen, aber auch in dem unseligen Familienstolz, nicht von jemand abhängig zu sein. In Julies Elternhaus sei sogar eine kleine Wohnung für seine Mutter gewesen. Die habe er gleichfalls nicht gewollt. "Auch deinetwegen nicht, Tante Hilde? Du wärest ja dann allein zurückgeblieben." Sie schwieg. Wie so oft kamen ihr Tränen. Wie viel hat Herbert gewusst von ihrer Beziehung zu Josef Wedzicki? Heute denke ich: manches, geahnt vieles. Er wird erkannt haben, dass sie gut war für seine Schwester.
Und nun, den noch immer unbewältigten Verlust in sich, traf er Elfriede Holtz und ging mit ihr essen, wie sie es sich gewünscht hatte, brachte sie nach Hause, wie es sich gehörte, verabschiedete sich an der Haustür sogar mit einem korrekten Handkuss und fuhr zurück in sein Tagungsquartier. Während der Fahrt mag er den Tag bedacht und gemeint haben, er habe sich richtig verhalten. Denn ich stelle mir vor, dass er sehr wohl bemerkt hatte: Dieses Fräulein Holtz suchte einen Ehemann. Er jedoch wollte keiner werden, jedenfalls damals nicht.
Die Enttäuschung darüber, dass Julie, die er noch immer liebte, für ihn, den Sohn eines kleinen Polizisten und einer angelernten Schneiderin, 'zu hoch' war, die steckte tief in ihm, da konnte er noch so begabt sein. Er blieb besetzt von den Werten und Verboten, mit denen ihn seine Familie imprägniert hatte: Wir sind kleine Leute, die Kinder sollen nicht meinen, sie könnten etwas sehr viel Besseres werden als die Eltern. Zeitweilig zwar haderte er mit der Beschränktheit dieser Eltern, die ihn nicht hatten Abitur machen, nicht hatten studieren lassen, die das Finanzierungsangebot der Jaminets, als sie endlich von dem Knick in Herberts Ausbildung erfuhren, ausgeschlagen hatten. Sie liebten ihn wie einen Sohn. Aber er trennte sich nicht von seiner Familie. Er kämpfte nicht ums Studium, nicht um seine Liebe. Er zog sich innerlich zurück und lebte innerhalb der Familie zwischen Schreibtisch und Bücherschrank, ein stummer Gast.
Diese Frau in Köln nun, die ihm deutlich genug Avancen machte, glaubte er ebenso deutlich abgewiesen zu haben. Doch nicht deutlich genug für die Kölnerin. Den Tagungsort ihres Cafébekannten herauszufinden und den täglichen Ablauf seiner Fortbildung, das kann für sie nicht schwer gewesen sein. Am Sonnabendmittag nach dem Kölner Sonntag passte sie ihn dort ab, den nichts Ahnenden, bat um noch einmal einige Stunden, um ein Gespräch, wenn es ihm recht sei, bei einem Spaziergang am Rhein. "Warum?" könnte er gefragt haben, es sei doch nichts offen zwischen ihnen und nichts auf irgendeine Art von Zukunft hin angelegt, ja, nicht einmal verabredet hätten sie sich. Von solcher abwehrenden Direktheit konnte er sein, nur nicht seiner Mutter gegenüber.
Gerade ihre mögliche Zukunft aber hatte sich Elfriede Holtz, die meine Mutter werden würde, inzwischen überlegt, hatte sie einige Nächte lang mit immer größer werdender Entschlossenheit durchgrübelt. Sie wollte endlich heiraten, einen Mann an ihrer Seite wissen. Zu dem Herrn Zinke sagte sie zunächst Belangloses, aber auch, dass sie noch einmal lange im Dom gewesen sei und wieder angesehen habe, was er ihr gezeigt und erklärt hatte. Herbert Zinke, irritiert von dieser erkennbar nicht absichtslosen Mitteilung, aber noch immer höflich, vielleicht auch neugierig, ließ sich darauf ein, mit zur Rheinuferpromenade zu gehen. Dort blieb sie nach wenigen Schritten stehen, als hätte sie den Vater Rhein zum Fürbitter gebraucht, und sagte: "Bitte heiraten Sie mich." Das muss sie nicht wörtlich so gesagt haben. Aber die alte Hilde hat bestätigt, dass es Elfriede gewesen sei, die diese Ehe eingefädelt habe.
Er hat wohl nach Not geklungen, der ungewöhnliche Satz, stelle ich mir vor, aber außerdem nach Kalkül. Der dennoch mein Vater werden würde, der Einzelgänger, war seinem Wesen nach kein Nothelfer, jedenfalls kannte ich ihn so nicht (freilich, es gibt eine Ausnahme, von der ich noch berichten werde). Er hielt sich fern von den Menschen, und was er damals in der Bitte oder Aufforderung gehört haben mochte, das ihn vorweg schon zum diese Bitte Erfüllenden machte, das erzeugte wahrscheinlich vor allem Abwehr. "Bitte verschonen Sie mich mit solchen Wünschen", könnte er erbost gesagt haben, "und zwingen Sie mich nicht, Ihnen noch schärfer zu antworten." Denn die Sprache war das Ausdrucksmittel seiner Sehnsüchte, seiner Gedichte, die seinem zeitweiligen Gott Rilke nachempfunden waren, war Ausdruck seiner graphologisch-psychologischen Analysen, aber sie war auch seine Waffe. "Bitte hören Sie mich erst an", sagte sie. In ihrem Blick muss etwas gewesen sein, das ihn dazu bestimmte. Er setzte sich auf eine Bank. "Nun also, ich höre Sie an."
Da wird sie ihm wohl, die nicht mehr junge Frau, ihre Lebensgeschichte, ihre Liebesgeschichte erzählt haben. Sie könnte beherrscht gewesen sein von der Vorstellung, alles im Leben misslinge ihr, da es keinen Mann gab, der ihr den Status der verheirateten Frau verschafft hätte. Es schien ihr mehr um das Ansehen nach außen hin zu gehen, mehr darum, die Anrede "Fräulein" loszuwerden, als um die Vertrautheit einer Liebesgemeinschaft,. die sie, das müsste sich dann gezeigt haben, bisher nicht kennen gelernt hatte. Sie war schön gewesen, das sehe ich auf einem Foto der 21-Jährigen, aber die Schönheit war schon von altjüngferlicher Verbitterung überschleiert. Auf dem Hochzeitsbild ist das für mich schrecklich deutlich, und das ist nur ein halbes Jahr später entstanden.
Früher könnte sie ein lockeres, lockendes Mundwerk gehabt haben, etwa, wenn sie mit der Motorrad-Clique ihres Bruders mitfuhr. Kess waren ihre Reden, stelle ich mir vor. Wenn aber einer der jungen Männer sie bei ihren Worten zu nehmen versuchte, sie abseits führte, mit ihr knutschen wollte, so rief sie den Bruder um Hilfe, als sei der andere dabei, sie zu vergewaltigen. Das ging nicht lange so. Sie galt bald als die frigide Zicke und bloße Maulheldin, und dem Bruder wurde nahe gelegt, er solle sie künftig zu Hause lassen. Sie hatte einen Ruf weg, der ihr anhing in der Gegend. Deshalb, stelle ich mir vor, wurde sie das Sorgenkind ihrer Eltern, nachdem sie lange Jahre artig gelebt hatte, wie man es von ihr erwartete, aber doch niemand, so wie sie es in ihren Mädchenbüchern gelesen hatte, um ihre Hand anhielt. 17 war sie, als der Krieg zu Ende war, der erste, und glaubte schon, das Leben verpasst zu haben.
Irgendwann am Anfang ihrer 20er Jahre ging sie dann nach Köln. Sie ist sehr mutig gewesen, glaube ich, die Kleinstadt zu verlassen und eine Stelle in der unbekannten Großstadt anzunehmen. Sie suchte dort wohl die berufliche Bestätigung, aber auch einen Mann, den fürs Leben. Wie aber ihn finden? Sie hätte vermutlich manche haben können, zum Beispiel die im Kino ihr die Hand aufs Knie legten und höher hinauf wollten. Oder die, beim Tanzen auf Schloss Aprath, die ihre Wünsche deutlich genug machten, die sie dann doch nicht verstanden haben wollte. Eigentlich war sie ein braves Mädchen und ein etwas einfältiges dazu, denn sie hat nicht begriffen, über viele Jahre hin nicht, dass sie mit ihrer Art des Suchens nach einem Mann nur einen zeitweiligen Liebhaber finden würde, und solche Zeitweiligen, die sie mehrfach hätte haben können, verscheuchte sie durch die zunehmende Altjüngferlichkeit, die ihr befahl, ihre Angebote nicht zu einzulösen. Das alles potenziert im Kölner Karneval. Sie war zu unsicher, ihn als erotisches Spiel zu sehen, und deshalb war sie unfähig, sich zu verkleiden. Aber eben dadurch fiel sie auf, und wieder fanden sich dann Männer, wie sie ja sollten, und immer, wenn es ernster zu werden drohte, entwischte sie ihnen. Und es hatte das eine Mal gegeben, es könnte dieses eine Mal gegeben haben, wo ein Mann ebenfalls nicht verkleidet war, sich seriös gab und ihr Vertrauen errang, für den Abend. Er lud sie danach einige Male zum Essen ein, damit sein Trinken dabei nicht so auffiel, und goss ihr immer wieder nach. Und als sie einmal so ohne Hemmung war, dass die Alarmglocken nur noch so matt anschlugen, dass sie zu überhören waren, da hatte der Mann ein Zimmer, in das er sie mitnahm und in dem er mit ihr schlief. Auch das erste Mal kann schwanger machen, und das tat es. Elfriede war fassungslos, als sie es bemerkte. Den Eltern beichten, das Kind aufziehen? Unmöglich. Sich in den Rhein stürzen? Sehr möglich. Sie versuchte es auch, und da sie nicht schwimmen konnte, hätte der Versuch gelingen können. Da sie ihn jedoch zugleich so angelegt hatte, dass man sie bemerken sollte, gelang er nicht. Aber das Kind des Versehens und der Unehre, das wollte sie loswerden. Sie vertraute sich ihrem Chef an, demselben, der das noch immer war, als sie an Herbert Zinke ihre schnörkellose Bitte richtete. Der Chef hatte Kontakte für eine Abtreibung. Die musste sie nicht bezahlen, aber ihm seitdem gelegentlich zu Willen sein. Da hatte sie keine Wahl. Deshalb wollte sie weg aus Köln. Deshalb wollte sie, einer sollte sie endlich heiraten. Deshalb wollte sie, dieser seriöse gebildete Berliner Bankbeamte sollte sie ehrbar machen.
Hier halte ich inne. So sollte die einmal gewesen sein, die meine Mutter geworden ist? Es ist wahr: Ich habe mir das ausgedacht, das uneheliche abgetriebene Kind und die Folgen. Ich weiß ja fast nichts von ihr. Nur von dem Tanzen auf Schloss Aprath weiß ich, dem mehrfach erwähnten, ohne jede Einzelheit, und dass sie Karnevalsschlager trällerte nach der Art von "Mer lasse d'r Dom in Kölle", an die ich mich noch erinnere. Am Karneval hat sie teilgenommen, unverkleidet. Auch das hat mir die Tante in ihrem letzten Lebensjahr erzählt. Dann weiß ich noch, auch das habe ich schon gesagt, dass sie das "Sorgenkind" ihrer Mutter war, meine einzige Cousine hat es mir erzählt, dass sie mit ihrem Bruder auf Motorradtouren war, davon gibt es ein Foto, dass sie den Spitznamen "Lachtäubchen" hatte. Ich habe sie nichts gefragt, weil sie mir und zuvor schon der Berliner Schwiegerfamilie erträglicher war, wenn sie nichts sagte. Aber sie muss vor ihrer Ehe anders gewesen sein, als ich sie kannte, lebensfroh, ein "Lachtäubchen" eben und eine, die gerne das Tanzbein schwang. So mannstoll aber und scheu zugleich? Doch, so etwas gibt es. Ob meine Mutter so war, das weiß ich nicht. Natürlich auch nicht, ich sagte es schon, ob sie die Aufforderung wirklich so kess und verzweifelt geäußert hat: "Bitte heiraten Sie mich." Nur: Diese beiden so verschiedenen Menschen, die sich im Café am Dom in Köln kennen gelernt haben, Herbert Zinke und Elfriede Holtz, sie haben ja geheiratet, und das auch noch ganz außerordentlich schnell. Im Herbst 1937 das zufällige Treffen, zu Sylvester die offizielle Verlobung in Berlin, am 4. März 1938 die Hochzeit standesamtlich in Berlin, am 6. März kirchlich im Bergischen. Für diese Schnelligkeit muss es doch gewichtige Gründe gegeben haben, auf beiden Seiten.
Im Übrigen war auch die alte Fiddy Knaak, Hildes einzige Freundin, der Meinung, es müsste meine künftige Mutter gewesen sein, die meinem künftigen Vater ein Heiratsversprechen "abgeluchst" habe. Sie ist ja neben Hilde meine einzige Gewährsfrau. Meinen Vater kannte sie gut genug, um anzunehmen, eine Mésalliance wie zwischen diesen beiden Menschen könne wohl kaum ursprünglich von ihm ausgegangen sein.
Nun gehören zu einer Heirat aber eben zwei. Der mein Vater werden würde, der Einzelgänger, war wirklich kein Nothelfer. Und dass die Liebe seines Lebens noch kaum unverarbeitet in seinen Sinnen war, das ist bezeugt, freilich von seiner sehr alten Schwester, also vermutlich verändert gegenüber dem, was gewesen ist, im Kern aber sicherlich richtig erinnert. Denn so etwas bleibt haften. Warum also nur verband sich mein Vater, und so rasend schnell, mit dieser Frau, die noch dazu fünf Jahre älter war als er, 36 Jahre, als er sie kennen lernte? Sie muss ja nicht so liebensunfähig und mannstoll gewesen sein, wie ich sie hier in meiner Hilflosigkeit dargestellt habe, sie war vielleicht nur wenig liebesfähig und nicht zugleich mannstoll und mit ihren Freundinnen ein Lachtäubchen. Die gab es, sie hießen beide auch Elfriede und wurden zusammen "die drei Friedchen" genannt. Mehr weiß auch die Cousine nicht, wusste auch die Tochter eines anderen Friedchens nicht, mit der sie mich zusammen gebracht hat.
Sie, Elfriede Holtz, deren Tochter ich nicht gerne bin, hatte lange vergeblich nach einem Mann gesucht, nehme ich also an. Oder die, die um sie möglicherweise geworben hatten, wollte sie nicht. Auch das ist möglich. Wurde sie das "Sorgenkind" ihrer Mutter, einfach nur, weil sie nicht unter die Haube kam? Oder weil bekannt wurde, dass sie auf zu lockere Weise versuchte, unter die Haube zu kommen? Man muss aber bedenken, dass von den Männern, die zur Heirat in Frage kamen, die ein paar Jahre älter waren als sie vom Jahrgang 1901, viele gefallen waren in dem Krieg, der in den 30er Jahren noch "der Weltkrieg" hieß. Auch Heiraten, die die Eltern hätten arrangieren können, waren dadurch eingeschränkt und dazu auch schon aus der Mode.
Der mein Vater wurde, stelle ich mir vor, hat bis zum Ende dieser oder einer anderen Erzählung aus einem vielleicht nur sehr vordergründig fröhlichen Leben zugehört, da am Rheinufer. Kein Nothelfer und keineswegs zur Heirat bereit. Hat denn, was immer die nicht mehr ganz junge Frau ihm erzählte, ihn doch gerührt oder sein psychologisches Interesse erregt? Etwa so, dass er die Heirat zwar abgelehnt hätte, aber der Frau mit dem ungewöhnlichen Anliegen seine Berliner Adresse gegeben hätte als einer, den sie eben doch, notfalls, um Rat sollte fragen können, aus der Ferne? Vielleicht war es so, vielleicht anders.
Ich habe meinen Vater im Grund nicht besser gekannt als meine Mutter. Einige Jahre lang habe ich das aber geglaubt, weil ich viel mit ihm zusammen gemacht habe, von acht bis zwölf etwa. Ich lernte ihn erst kennen mit acht Jahren, als er aus der Nachkriegszeit zurück kam, hatte mich auf ihn gefreut, liebte und bewunderte ihn anfangs. Warum bloß hat er Elfriede zur Ehefrau genommen? Das ist der Stachel, der mich zum Überlegen und Kombinieren und Erfinden treibt. Er muss ja ein Bild von ihr nach Berlin mitgenommen haben aus ihren Erzählungen und seinen Vermutungen dazu, ein Bild, das ich nicht kenne. Das kann aber nicht das Bild von einer Frau gewesen sein, die er geliebt hätte. Und selbst wenn er ein Bild auch als Foto mitnahm, kann das an seiner Ablehnung ihrer Bitte kaum etwas geändert haben.
Und darum suche ich die Erklärung für die Eheschließung im reichlich Banalen. Wenn er etwa wirklich erkannt hätte, dass diese schon etwas überalterte Heiratssüchtige das aus lauter Unsicherheit war, dass sie einen Vaterersatz suchte, ohne es zu wissen, einen, der sie durchs Leben leitete mit seinen Schwierigkeiten wie Steuererklärungen und alleine reisen und derlei, dann könnte er auch erkannt haben, dass sie auf Liebe keinen Anspruch machte, sondern nur auf Geborgenheit. Und auch für ihn gab es Dinge im Leben, die durch Heirat einfacher oder erst möglich wurden.
Hier, scheint mir, stellte ein für einen anderen böses Schicksal ihn vor eine schnell zu treffende Entscheidung. Es wurde nämlich im Haus Kuglerstraße 1 eine Wohnung frei, ich habe es schon gesagt, und just die über der seiner Mutter. Denn der jüdische Kürschnermeister Karl Wurzel, dem unten im Haus ein Ladengeschäft für Pelze gehörte und der für sich und seine Familie Affidavits für die USA bekommen hatte und in die Emigration ging, er hatte sich nicht, wie andere, selbst beruhigt damit, dass es für die Juden schlimmer ja nicht kommen könne, hatte die relative Ruhe des Olympiajahres 1936 als eben nur relativ erkannt und verließ Deutschland, übrigens mit dem Versprechen an meine Großmutter, sich "nach Hitler" wieder zu melden. Und das tat er wirklich. Die oft schönen zurückgelassenen Wohnungen von Juden riss sich gerne Naziprominenz unter den dreckigen Nagel. Diese gab wohl die Hausbesitzerin Gertraud von Jaminet als bereits zugeteilt aus, um sie meinem Vater zukommen zu lassen. An eine Einzelperson würde aber eine Drei-Zimmer-Wohnung nicht vermietet werden. Wenn also Herbert Zinke sich seinen Traum eines eigenen Arbeitszimmers erfüllen, diese Gelegenheit nutzen wollte, musste er absehbar schnell heiraten. War ihm dazu Elfriede Holtz recht, die er nicht liebte, die ihn nicht liebte, die er aber durch diese neue Situation nun ebenfalls gebrauchen konnte?
Das Arbeitszimmer gab es ja in Form dreier Möbelstücke bereits, seines Schreibtisches und eines dazu passenden Sessels, die später dann seiner und meiner wurden, und seines Bücherschrankes, alle aus Eiche, abgesetzt mit Kirsche. Da fand auch der 10-bändige Brockhaus von 1819/20 einen Ehrenplatz, den Karl Wurzel Herbert Zinke geschenkt oder verkauft hatte. Dies Nachschlagewerk tut nun mir gute Dienste. Die beiden Möbel des werdenden Arbeitszimmers standen schon seit den 20er Jahren, nach dem Tod des Vaters, im Wohnzimmer der Wohnung, die Herbert noch mit Mutter und Schwester teilte. Dort arbeitete er, und das Zimmer war winters vielleicht von einem elektrischen Heizofen erwärmt. Diese Gelegenheit nun, das lang Erträumte zu verwirklichen, Karl Wurzels erzwungene Emigration, so stelle ich mir vor, vermochte Herbert nicht auszulassen.
Was aber mag er Elfriede nun geschrieben haben, der er in Köln die Heirat verständlicherweise abgeschlagen hatte? Die ganze Wahrheit wohl nicht. Vermutlich ließ er zunächst so viel Zeit vergehen, wie es nur möglich war, wollte er sein Projekt nicht gefährden, aber sie auch nicht vor fast schon vollendete Tatsachen stellen. Und dann vielleicht: Sie wüssten voneinander, warum sie bisher nicht geheiratet hätten, zumindest er von ihr dank ihrer Offenheit. Nun gebe es sie doch, eine Möglichkeit gemeinsamen Lebens in Berlin. Die große Liebe sei es nicht, das wüssten sie beide. Wenn es ihr aber genüge und recht sei, mit ihm einen gemeinsamen Haushalt zu führen, für den er der Erwerbsarbeit nachgehe, und da er nicht erwarte, sie wolle und könne teilnehmen an seinen graphologisch-psychologischen Arbeiten, da er aber zugleich sicher sei, sie werde sie nicht stören durch Vergnügungssucht, so sei doch ein guter Kompromiss wohl möglich, gerade weil beide voneinander nicht zuviel erwarteten. Von Kindern schrieb er nicht, hatten sie in Köln wohl kaum gesprochen. Er hätte gut ohne Kinder leben können. Von ihr glaubte er es. Er lud sie also ein, nach Berlin zu kommen, damit er sie seiner Familie vorstellen könne.
Sie sagte wahrscheinlich mit Freuden zu. Ein Briefwechsel kam in Gang. Viel Zeit blieb nicht dafür, der späte Oktober vielleicht, der November, der Dezember, im neuen Jahr noch Januar und Februar. Das dünne Bündel ihrer Briefe habe ich als Kind einmal zufällig gesehen, in die Hand genommen und, diskret war ich nicht, darin gelesen. Diese Liebesbriefe lagen, wohin sie nicht gehörten, auf den Besteckkästen, wo sonst keine zu finden gewesen waren. Wahrscheinlich hatte ich die Mutter bei eigenem Lesen gestört. Nur die Anrede weiß ich noch: "Mein liebster Bub!". Schon das ältere Kind, das ich damals gewesen sein muss, wunderte sich dieses zärtlichen Kosenamens, den es mit dem Ton des Familienalltags nicht verbinden konnte.
Hatte Herbert Zinke, der also mein Vater geworden ist, sich denn nicht überlegt, was so nahes Wohnen zweier Familienteile übereinander für Probleme, Streitigkeiten, Rechthabereien erzeugen konnte? Er kannte schließlich seine Mutter. Ich nehme an, dass er in sich alle Einwände beiseite gefegt hat. Er wollte sein Herrenzimmer und konnte es jetzt bekommen. Es gab eine Frau, die ihn wollte und die er jetzt brauchte. Er wird Mutter und Schwester alles so positiv wie möglich dargestellt haben, was diese Elfriede betraf, die er ein Vierteljahr zuvor noch nicht gekannt hatte, und wird umgekehrt diese beiden der nun plötzlich künftigen Ehefrau gleichfalls aufs Vorteilhafteste dargestellt haben. Vermutlich meinte er unvernünftigerweise, dass Vernunft die Grundlage des Miteinanderlebens der drei Frauen sein könnte. Und er konnte sich bei dieser Konstellation weiterhin zusammen mit seiner Schwester um seine Mutter kümmern, die Verkrüppelte und Verwitwete, wie sie es verlangt haben muss, und brauchte ihr keinen Umzug zuzumuten. Ich glaube ja auch, dass er als einziger, wenn nicht gewusst, so doch geahnt hat, wer Josef Wedzicki für Hildegard Zinke war, dass sie nicht mehr heiraten wollte und also bei der Mutter wohnen bleiben würde.
Elfriede kam, sicher einmal vor der Verlobung, und wurde bei den Eltern von Hildes Freundin Fiddy logiert, wo es ein Gästezimmer gab. Man war sicherlich so freundlich wie möglich zueinander, denn anders konnte solch ein erster Besuch kaum absolviert werden. Die Distanziertheit in der Freundlichkeit, das wechselseitig empfundene Fremdsein war noch durch die Neuheit der Situation zu erklären. Herzlich war keine von den vier Personen von ihrem Wesen her, die ich später als meine engere Familie kannte.
Wahrscheinlich hat meine Großmutter, das kann ich mir lebhaft vorstellen, als die so irritierend schnell erschienene Rheinländerin wieder fort war, gegen sie gestänkert, und ihre Tochter mit ihr. Allerdings hätte sie das gegen jede Neue getan, denn jede wäre eine Bedrohung ihrer Herrscherlichkeit gewesen. Herbert wird das gewusst haben, aber da er mit seiner künftigen Frau eine Zweckehe einging, ist es ihm wohl nicht allzu wichtig gewesen. Sie mussten sich ja nicht mögen, seine Mutter und seine Frau. Dass sie nicht einmal die Contenance haben würden, einander zurückhaltend-höflich zu behandeln, damit brauchte er vielleicht trotz der Rechthaberei seiner Mutter nicht zu rechnen. Seine alte Schwester hat mir gesagt, sie habe sich in der künftigen Schwägerin eine Schwester erhofft, aber "Friedel" habe sich "hochmütig" benommen.
Fiddy freilich, der Herbert in jüngeren Jahren, wenn sie ihre Freundin Hilde besuchte, eine Zeit lang Gedichte in die Manteltasche gesteckt hatte, wenn sie es nicht merkte, "Werbungsgedichte", wie sie als vergnügte Greisin zu mir sagte, Fiddy, die natürlich eingeladen war, während Elfriede da war, die sagte zu ihrer Freundin etwa so, jedenfalls hat sie es mir so erzählt: Diese da sei keine Frau für Herbert, sie lache aus Unsicherheit oder Albernheit und nicht, weil sie sich über etwas Komisches freuen könne. Sie gebe sich als die muntere Kölnerin, aber sei in Wirklichkeit gehemmt und ungebildet dazu, es werde nicht gut gehen mit ihr und Herbert. Der hatte den nahe liegenden Einwand, als seine Schwester es ihm erzählte, Fiddy habe ihn ja abblitzen lassen, und sowieso intrigiere sie gern, sei vielleicht selbst in ihrer jungen Ehe nicht glücklich ...
Elfriede kehrte nach Köln zurück. Herbert ließ die Wohnung in der Kuglerstraße renovieren, die er zu heiraten gedachte und die er mit seiner künftigen Ehefrau natürlich mehrfach angesehen und im Geist eingerichtet hatte, nachdem die Möbel von Karl Wurzel vom Deutschen Reich geraubt worden waren. Dann zog er auf seine selige Insel, ließ also Schreibtisch und Bücherschrank schon hinaufschaffen in die Wohnung, für die er nun die Miete bezahlte, und seine Schlafcouch und einen kleinen Tisch, den so genannten Rauchtisch mit der rötlichen Marmorplatte (nur hat da niemand je geraucht) und zwei Sessel. Er arbeitete da und schlief da, nahm aber die Mahlzeiten bei Mutter und Schwester ein, die sich auch weiterhin um seine Kleidung und Wäsche kümmerten. Die Wochen, in denen er so im Provisorium lebte, sie sind wohl seine glücklichste Zeit in dieser Wohnung gewesen. Es waren nur November und Dezember 1937 und Januar 1938.
Zum Jahresende 1937 kam Elfriede zur Verlobung wieder, geleitet von ihrem Bruder, der im selben Jahr geheiratet hatte. Übernachtete sie schon in ihrer künftigen Wohnung, allein natürlich oder mit dem Bruder? Eine große Feier wird es nicht gegeben haben, so wie es keine große Liebe war. Fiddy war da mit Mann und Werner Potrafky mit Frau, Herberts einziger Freund, der Hilde einmal geliebt hatte, aber aus den beiden war kein Paar geworden. Elfriede sah die kleine selige Insel, aber sie erkannte sie nicht. Die Möbel für die große Insel wurden wohl in den ersten Januar-Tagen 1938 gekauft, der Mode der Zeit entsprechend das, was später spöttisch Gelsenkirchener Barock hieß.
Die standesamtliche Trauung also in Berlin, zwei Tage darauf die kirchliche in dem kleinen bergischen Heimatort von Elfriede, Anfang März 1938. Soll ich dem Hochzeitsfoto vor der Kirche nachträglich Bedeutsamkeit zuschreiben? Es scheint, dass Elfriede beinahe über die Schleppe ihres Kleides gestolpert wäre, eine Frau ihr zu Hilfe kam und dadurch mit aufs Bild geriet. Herbert, dessen Haare mit eben über 30 schon recht gelichtet sind, so dass sogar sein künftiger mönchischer Haarkranz zu ahnen ist, jedenfalls, wenn man ihn nur so gekannt hat, Herbert schaut in die Kamera, wie es sich gehört, ernst und wie abwesend, seine Frau ist damit beschäftigt, nicht zu fallen. Es gibt aber noch ein in einem Atelier gemachtes Foto. Das Brautpaar schaut auch auf dem sehr ernst aus.
Es reiste wohl noch am selben Tag in die Flitterwochen nach Jugenheim an der Bergstraße, wo es ein Ferienheim der Deutschen Bank gab. (Eine Entbehrlichkeit wie diese weiß ich, wieder einmal.) Dort zeugten die ehrbar Verheirateten vermutlich in der so genannten Hochzeitsnacht, die wohl eher dazu gehörte, als dass Lust in ihr endlich zu ihrem Recht kam, das erste Kind, einen Sohn, den am 28. Dezember 1938 tot geborenen "Knaben Zinke". So begann ihre Ehe mit einem sicher schwer zu verarbeitenden Verlust. Vielleicht hat meine Großmutter geunkt, dieser Tod sei die Strafe für die allzu schnell geschlossene Ehe zwischen zweien, die nicht zueinander passten. Solche barschen Meinungen gingen ihr leicht vom Munde. Und vielleicht hat meine Mutter still gemeint, er sei die Strafe für zu lockeren Lebenswandel.
Es wurde noch ein Kind gezeugt, ich, Ursa, im Sommer 1939. Auch ich sei ein Wunschkind gewesen, sagte mir mein alter Vater. Und auf die Nachfrage, ob auch nach einem lebenden ersten Kind, immerhin ehrlich die Antwort: Wie solle er wissen, was sie in einer anderen Familiensituation beide gewollt hätten? Vom "Knaben Zinke", meinem Bruder, dessen Geburts- und Totenschein unser alter Vater versehentlich nicht vernichtet hat, weiß ich keinen Vornamen. Das amtliche Papier durfte wahrscheinlich nicht einmal einen nennen, denn Totgeburten wurden damals anonym im Krankenhausmüll entsorgt mit abgetriebenen Föten und amputierten Armen und Beinen, ein Name aber hätte ihn zur Person gemacht, die zu bestatten gewesen wäre. Aber warum habe ich niemals den meinem Bruder zugedachten Vornamen erfahren, niemals nach ihm gefragt? Der Tote wurde noch obendrein tot geschwiegen. Von ihm zu sprechen, stelle ich mir vor, hätte es meiner Mutter noch schwerer gemacht, das 'Versagen' auszuhalten, mit dem sie sich in die Schwiegerfamilie eingeführt hatte.
Am 25. August 1940 wurden in der Familie Abschiedsfotos gemacht, so viele, wie sonst niemals an einem einzelnen Tag. Der Vater hatte den Einberufungsbefehl erhalten. Er, noch in Zivil, Mutter, Großmutter, Tante wurden jeweils mit dem Baby allein fotografiert, dann Vater und Mutter je mit ihm und den anderen Personen außer der, die knipste. Es konnte ja, wer wollte das wissen, ein Abschied für immer sein. Ein ganzer Film aus der Box wurde verbraucht, acht Bilder.
Das Baby hatte damals wohl gerade den Vater erkannt und von der Mutter unterschieden. Mir scheint, es hat ihn vermisst, als er wenige Tage nach diesen Bildern nie mehr in seinem Blickwinkel erschien, der recht weit geworden war, denn es hatte sitzen gelernt. Noch war das anstrengend. Und da die neue Person, die es erkannt hatte, sich nie mehr zeigte, stellte es das Sitzen ein. Ja, ich fiel wieder um, wenn man mich hinsetzte. Ja, es bedurfte offenbar einer langen Zeit des Säuglingsturnens, bis ich wieder sicher saß. Da hatte ich den "Papa" bestimmt vergessen. Niemand hat mir das je mit diesem Zusammenhang erzählt, aber so könnte er gewesen sein.
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Samstag, 28. Juli 2007
DIE RÜCKKEHR DES VERLORENEN VATERS
1948 erst kam mein Vater zurück in die Wohnung in der Kugler Ecke Schönhauser in den nun russischen Sektor Berlins, als die Westsektoren der Stadt nach der Währungsreform für fast ein Jahr von den übrigen Gebieten des sich teilenden Deutschlands abgetrennt worden waren. Lange habe ich gemeint, er sei schon 1947 wieder da gewesen. Aber ich habe in dem Sammelsurium der aus einem Album genommenen, mit der Box geknipsten Kinderfotos, die ich vergrößern lassen wollte und nie zurück geordnet habe, eines, nur eines gefunden, das meine Mutter und mich zeigt. (Es gibt auch ein paar Fotos aus dem Fotografenatelier mit uns beiden, vom Baby, von der Ein-, Zwei- und Dreijährigen mit Mutter, danach erst wieder ein Foto der Sechsjährigen vom Fotografen und eins, das mit der Box gemacht ist im März 1946 in der Wisbyer Straße, in meinem "Tedda"-Outfit mit Fellmütze, kleinem Weißfuchskragen und Muff - woher, warum diese Ausstattung?) Auf dem, das ich hier beschreiben will, stehe ich storchenbeinig da mit hochgesteckten Gretchenzöpfen und in schon wieder zu kurzem Kleidchen. Auf der Rückseite ist in der eckigen Handschrift meiner Mutter mehrerlei zu lesen: "Mai 1948" und "Dieses Kleid nähte ich aus dem abgetrennten Weißen vieler Fahnen." Solche Mitteilung hat nur Sinn, wenn sie an einen gerichtet ist, dem man das nicht sagen kann, weil er nicht da ist, der aber irgendwann zurückgekommen ist und das Foto mitgebracht hat. Mein Vater also und erst 1948. (Woher hatte die Mutter die "vielen" NS-Fahnen bzw. das "Weiße" davon? Vielleicht hatten andere sehr gut "das Rote" davon gebrauchen können, zum Nähen von roten Fahnen mit Hammer und Sichel ...) Außerdem steht da noch auf der Rückseite ein Satz, den die Vorderseite, das Foto selbst also, widerlegt: "Wir blinzeln in die Sonne." Das tun wir aber gar nicht. Vielmehr hält mich, die ich offenbar nicht fotografiert werden wollte, jedenfalls nicht mit ihr, die Mutter an beiden Armen sehr fest. In meinem Gesicht kann man den Widerwillen sehen, nicht ein Blinzeln. Die Füße stehen zum Weglaufen auseinander, und die Finger meiner linken Hand sind in Abwehr weit auseinander gespreizt. Das Foto sagt etwas über Mutter und Tochter aus, das durch einen lügenhaften Kommentar nicht aus der Welt geschafft werden kann: dass ich von ihr nicht gehalten werden wollte. Indirekt sagt es auch, dass die Tochter sich den Vater herbeiwünschte und von ihm erhoffte, er werde sie anders behandeln, als die Mutter es tat, ohne beständig zu meckern. Und er würde überhaupt die drei miteinander zankenden Frauen, denen ich ausgesetzt war, in die Schranken weisen. Er würde so etwas wie Geist mitbringen; das war wohl auch meine Hoffnung. Natürlich war dies kein Wort, das ich damals gekannt habe, aber eine Empfindung und Erwartung solcher Art waren da. Ich hatte ihn ja auch schon kennen gelernt, 1946, als die Eltern sich unter abenteuerlichen Reiseumständen im Rheinland getroffen hatten, um die Zukunft zu beraten. Da hatte ich bemerkt, dass er irgendwie anders war als die Mutter. Er gefiel mir viel besser als sie, meistens jedenfalls. Es war mir aber aufgefallen, dass er manchmal, ohne einen für mich erkennbaren Grund, ungerecht zu mir war. "Jähzornig" nannten das die Erwachsenen, als sei das damit nicht nur erklärt, sondern auch entschuldigt. Ich sehnte mich also nach ihm, aber auf einem Untergrund von Angst.
Was ich von meinem Vater, wäre er wieder da, ganz konkret erhoffte, das war: Er sollte mir Geige spielen beibringen. Denn im Schlafzimmerschrank, versteckt hinter seinen in Berlin aufbewahrten weniger guten Anzügen, hatte ich eines Tages - die Mutter war wohl einkaufen gegangen, was noch immer mit langen Anstehzeiten verbunden war - einen Geigenkasten entdeckt. Vorsichtig nahm ich ihn heraus, denn ich war in der letzten Zeit häufig gescholten worden, weil ich ungeschickt gewesen war, auch Porzellan hatte fallen lassen. Unbotmäßig war ich zudem gewesen, hatte mir eigenmächtig aus meinen zu Tolle und Zöpfen bestimmten Haaren vor dem Spiegel im Flur einen Pony geschnitten. Ein entsetzliches Gezeter samt etlichen Ohrfeigen war gefolgt. Haare gehörten nicht dem Kind, sondern seiner Mutter, und da ein Termin beim Fotografen war vorgesehen gewesen war, kriegte der mich nun mit Tolle und Zöpfen und Ponyfransen vor die Linse. "Wie hässlich du so aussiehst!" hatte die Mutter gesagt, ehe wir losgingen.
Behutsam also setzte ich mich mit der Geige auf die Couch in der Wohnzimmerecke, die mir nachts zum Schlafen hergerichtet wurde, behutsam nahm ich den Geigenkasten auf den Schoß und sah ihn an. Das habe ich jetzt vor dem Schreiben nochmals getan, und so ähnlich wird es damals gewesen sein. Schwarz war er, hatte zwei Steckschlösser, wie ich sie von meinem Schulranzen her kannte, und zwischen ihnen noch ein abschließbares. Kein Schlüssel da, aber der Kasten war nicht versperrt. Zaghaft öffnete ich ihn. Innen waren er und sein Deckel ausgeschlagen mit einem dunkelgrünen Stoff, der sich ähnlich anfühlte wie der von den beiden Hüten meiner Mutter. Filz schien das hier auch zu sein, nur dünner. Im Deckel war eine lange dünne Stange aus Holz eingeklemmt mit harten Haaren drauf gespannt. Es war Platz für noch so ein Ding, aber es gab nur dies eine. Und ein rundes Schild klebte da, darauf stand: "J. Altrichter, Hof-Instrumenten-Fabrik Frankfurt a. d. Oder". Ich merkte es mir, vor allem, weil ich mich wunderte, dass Instrumente wie dies auf Höfen hergestellt wurden. In dem Kasten im grünen Filz lag also das Instrument, die Geige. Ich wusste den Namen, eine Geige war in irgendeinem Buch vorgekommen und abgebildet oder beschrieben gewesen. Oder die Tante hatte davon erzählt. Die Geige war aus braunem Holz, hatte eine sonderbar geschwungene Form, wie ich sie noch niemals gesehen, schon gar nicht angefasst hatte. Oben drauf waren allerlei seltsame Aufbauten, eine schwarze Schale, zwei Stücke schwarzes Holz, über das drei dünne Fäden liefen, die am anderen Ende des Hof-Instruments zu vier drehbaren schwarzen Holzstücken in einer Art Schnecke führten. Ich zupfte daran. Die beiden rechten ergaben schöne, ziemlich hohe Töne, die linke einen dunkleren. Dazwischen, so sah ich dann, fehlte anscheinend so eine Tonschnur. Erschrocken, dass ich diese Töne hervorgebracht hatte, nahm ich nun die Geige ohne den Kasten in meine beiden Hände, hielt sie dann mit der linken fest und fuhr scheu mit den Fingern an ihren so schön geschwungenen Seiten entlang, streichelte die ebenfalls leicht geschwungene glatte Unterseite und führte dann meinen rechten Zeigefinger über die beiden dünnen Linien auf der Oberseite, die die Form der Geige nachzeichneten. In diese Oberseite waren zwei S-artige Löcher geschnitten. Ich versuchte hineinzuschauen und merkte, da innen waren Buchstaben. Dort stand wieder "J. Altrichter" usw. und noch: "Nach Antonius Straduarius gefertigt" und: "anno 1911". Was das hieß, verstand ich nicht.
So ungefähr könnte es gewesen sein, mein erstes zärtliches Erkunden einer Geige. Ich denke, es war noch im Jahr 1946, nach jener Abenteuerreise ins Rheinland. Das Betasten dieses wundervollen Gegenstandes hatte niemand hören können, auch nicht meine Großmutter in der Wohnung unter uns und auch nicht die Untermieter. Ich wollte eigentlich nicht, dass jemand mich und die Geige hörte, aber natürlich war sie dazu da, zum Tönen gebracht zu werden, und da, das ahnte ich, würde ein Problem liegen. Ich zupfte wieder die Saiten, inzwischen weiß ich ja, dass sie so heißen, zupfte mit dem Daumen der rechten Hand und legte die Finger der linken auf verschiedene Stellen, und auch die Töne wurden verschieden. Noch hatte ich aber den Geigenstock, den Bogen, und die Geige nicht zusammengebracht. Ich griff ihr mit der linken Hand an den Hals und drückte sie an meinen und rutschte schließlich mit dem Kinn in die schwarze Vertiefung oben, und der Geigenhals rutschte zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Es war für meine kleinen Hände und Arme alles ein bisschen zu groß, fühlte sich aber richtig an. Vor allem das Kinn schmiegte sich sanft in die schwarze Stütze. Der Bogen gehörte demzufolge in die rechte Hand und war vorn anzufassen, wo mehr Holz war. Ich konnte ihn aber nicht halten, er war mir viel zu lang. Aber er war es anscheinend, der aus den Saiten die Töne herausholen sollte, und so versuchte ich wieder und wieder, ihn über eine Saite zu führen, doch er rutschte jedes Mal schräg weg. Aber er erzeugte dadurch einen Ton. Ich also erzeugte Töne auf einer Geige. Sie waren nicht schön, doch wahrscheinlich konnte ich lernen, schöne Töne auf einer Geige zu erzeugen. Ich hatte ja auch lesen gelernt.
Mein mir kaum bekannter Vater musste das können, schöne Töne auf einer Geige erzeugen, dachte ich, denn wenn meine Mutter es ebenfalls gekonnt hätte, so hätte sie doch sicher mit der Geige gespielt wie ich mit meinem Teddy. Mehr als eigentlich sowieso immer wünschte ich mir, dass mein Vater da sein sollte. Bestimmt würde er mir zeigen, wie ich aus der Geige Töne herausholen könnte. Eine Schwierigkeit war eben nur, dass andere diese Töne auch hören, also wissen würden, was ich konnte oder erst mal noch nicht konnte, und außerdem: was ich empfand. Schon in diesem jungen Alter, mit sechs, sieben, mit acht Jahren oder noch früher, fand ich mich von Personen umgeben, denen ich mein Innerstes nicht öffnete. Von der Rückkehr meines Vaters hoffte ich, dass das mit ihm möglich sein würde. Das war auch so, anfangs, aber sehr lange hielt es nicht an.
Nach dieser ersten beglückenden Entdeckung legte ich die Geige zurück in ihr filzenes Behältnis und klemmte gerade den Bogen im Deckel fest, als meine Mutter ins Zimmer trat. "Du hast Papas Geige genommen", sagte sie unnützerweise, denn das war ja offenkundig, und: "Du kannst doch gar nicht spielen."
"Wenn Papa kommt, wird er es mir zeigen. Ich will es lernen."
"Ja, Papa wird es dir zeigen, wenn er kommt. Jedenfalls, wenn du dich nicht zu dumm anstellst dabei. Aber du wirst das Instrument jetzt zurückstellen in den Schrank und wirst es alleine nicht mehr anrühren. Wenn du es vorher kaputt machst, so wie du immer wieder Sachen kaputt machst, kannst du nicht lernen, darauf zu spielen. Hast du mich verstanden? Ohne deinen Vater wirst du die Geige nicht mehr anrühren."
"Ja, Mutti", sagte ich, denn immerhin redete ich sie damals noch an, klappte den Geigendeckel zu und schloss den Kasten. Dabei bemerkte ich, dass sein Griff umwickelt war mit dem Band einer braunen Zopfschleife, das ich erkannte, umwickelt und das Band grob vernäht mit grauem Zwirn. Das musste meine Mutter an einem Abend gemacht haben, als ich schon schlief. Also hatte sie den Geigenkasten in der Hand gehabt und dann doch bestimmt die Geige auch. Sicher hatte sie dabei an meinen Vater in Rendsburg gedacht.
"Ja", hatte ich gesagt, als sie ihr Verbot aussprach. "Nein", dachte ich. Ich würde dies sonderbare klingende Holz von nun an immer wieder berühren müssen. Schon damit war ich auf Heimlichkeit angewiesen und darauf, gelegentlich mit der Geige allein zu sein. Aber meine Berührung sollte Klänge hervorrufen, und das wären dann eben Klänge, die andere hören würden, aber nicht hören sollten und nach dem Verbot ja auch nicht hören durften. Wie das geschehen konnte, wusste ich noch nicht. Aber ich wollte das Instrument zum Klingen bringen, ehe mein Vater wiederkäme.
"Bitte, Gott", betete ich abends in Gedanken meine Kinderbitte, "mach, dass mein Vater bald zurückkommt." Aber er kam noch nicht, kam nach dem Treffen im Rheinland noch zwei kinderlange Jahre nicht.
Die Geige holte ich trotz des Verbots manchmal heraus, streichelte sie und zupfte leise ihre Saiten in der Vorfreude darauf, dass ich sie zu spielen lernen würde. Sie war für mich das Unterpfand für die Wiederkehr meines Vaters. Es schlich sich aber auch eine Befürchtung ein, dass ich das vielleicht doch nicht können würde, Geige spielen. Hilde Heidbrink nämlich, meine bewunderte ältere Freundin, die im Eckhaus Schönhauser wohnte, hatte mir erzählt, ein Freund ihres Bruders habe Geigenunterricht. Er habe Unterricht bei einem älteren Herrn, der früher zu den Berliner Philharmonikern gehört habe und ihn für sehr begabt halte. Doch er müsse jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden üben. Mein Vater aber hatte all die Jahre, die er fort war, also fast seit meiner Geburt, gar nicht spielen können, überlegte ich. Vielleicht hatte er es verlernt, und dann könnte ich es auch nicht lernen. Geld für Unterricht, das hatte die Mutter gesagt, war nicht vorhanden.
Es gab noch einen anderen Grund für mich, an meiner zuerst so hochgemut angenommenen Lernfähigkeit für die Geige zu zweifeln. Denn in der unteren Wohnung stand ein Klavier, das mein Vater ebenfalls spielen konnte und auch meine Tante Hilde. Natürlich hatte ich das schon als ganz kleines Kind immer mal aufgemacht und auf die Tasten getippt, auch mit den Händen darauf gehauen, war auch mit der kleinen Faust ein paar Mal die Tastatur entlang gewitscht, ehe das für alle Zeit verboten wurde. Aber das waren nur Kindereien, wie wenn ich auf die kleine Trommel schlug, die ich eine Weile hatte und die bald kaputt ging, in der Redeweise meiner Mutter natürlich: die ich bald kaputt gemacht hatte. Erst als ich fragte, warum es schwarze und weiße Tasten gebe und warum die schwarzen höher ständen, bot mir die Tante an, mich Noten zu lehren und kleine Kinderlieder zuerst mit einem Finger spielen zu lassen, dann mit einfachen Akkorden, dann mit kleiner Begleitung der linken Hand. Das lernte ich, langsam, angestrengt und nie so, dass der Erfolg in mehr bestand als darin, die auf Papier gedruckten Noten auf der Klaviertastatur wiederzufinden. Ich spielte langsam, wenn ich die Töne nicht fand, ließ mir falsche, die ich sogar hörte, durchgehen, fand nicht präzise den richtigen Rhythmus und schon gar nichts vom Geist eines kleinen Stücks. Die Tante mochte nicht viel korrigieren, weil das ja auch hieß: wiederholen, und das wieder rief unfehlbar beim Klavier meine Großmutter wie dann später bei der Geige meine Mutter auf den Plan: Das Geklimpere/Gekratze sei den Nachbarn nicht zuzumuten. Von diesen Klavier-Spielereien nahm ich einen ganz massiven Argwohn mit: Wenn schon die mir so schwer fielen. wo doch die Tasten die Töne eindeutig angaben (oder angeben sollten, denn natürlich war das Klavier verstimmt, und Geld für einen Stimmer war nicht vorhanden) - wie sollte ich denn jemals die Töne auf der Geige finden?
Als sich mein Vater tatsächlich ansagte, wirklich nach Hause kommen würde, da schrieb er zugleich in seinem Telegramm, wir sollten nicht etwa zum Bahnhof kommen und dort auf ihn warten. Züge verkehrten noch immer unregelmäßig. Deshalb konnte er nicht einmal den Tag seiner Rückkehr verbindlich nennen. Einen Luxus wie Telefon hatten wir natürlich nicht, bekamen wir erst in Westberlin 1956, und es war natürlich auch dann nicht für Ferngespräche zu benutzen. Allerdings machte das nichts. Meine Familie hatte keine Freunde und mit den meisten Verwandten keinen Kontakt. Mein Vater rief aber nun unregelmäßig seine Mutter an, die seit 1956 ebenfalls im Westen wohnte. Meine Mutter schrieb ihrem rheinischen Bruder und dessen Familie weiterhin seltene, kurze, nichts sagende Briefe und benutzte das Telefon wohl gar nicht. Ich durfte als Schülerin den heiligen Apparat ebenfalls praktisch nicht benutzen, denn mit Klassenkameradinnen konnte ich mich schließlich in der Schule verabreden. Wir hatten das Telefon, weil meine Großmutter das verlangt hatte, als sie spät im Leben noch einmal umziehen musste.
Über alle Maßen aufgeregt war ich, den so lange erwarteten Vater endlich zu sehen, und wollte natürlich die erste sein. Ich nervte die Familie mit Fragen nach etwas, was sie ja selbst nicht wissen konnte: ob er wohl eher am Vormittag käme oder eher am Nachmittag, vielleicht gar nachts, und dass er bitte nicht vormittags kommen sollte, weil ich doch da in der Schule sei, und dergleichen mehr. Wann immer ich da war und nicht ins Bett geschickt wurde, stand ich auf dem Balkon und sah nach dem möglicherweise gerade in jener Minute zurückkehrenden Vater aus.
Und wirklich: Ich war es, die ihn zuerst sah, an einem Sonnabend Nachmittag, am Kantstein des gegenüberliegenden Bürgersteigs stehend, rechts und links je einen holzbeschlagenen Koffer. Ich winkte, und er winkte zurück. Er war es also. Ich raste durch unsere Wohnung und schrie: "Papa ist da!" und raste die Treppe herunter, trommelte mit beiden Fäusten an die Wohnungstür der Großmutter und schrie wieder: "Papa ist da!", rutschte das letzte Stockwerk verbotenerweise auf dem Geländer herunter (verboten, weil es angeblich gefährlich war; in Wahrheit aber war es verboten, weil es schöne Gefühle in der verbotenen Region "da unten" machte), öffnete heftig die Haustür, und da stand er schon auf unserer Seite des Bürgersteigs, und ich sprang auf seine Hüfte und umarmte ihn, er aber stellte mich schnellstens wieder auf die Straße. Denn von oben herab waren inzwischen natürlich eilends Ehefrau, Mutter und Schwester gekommen, diese mit geziemendem töchterlichem Abstand, meine und seine Mutter aber mit dem Versuch, jeweils die erste zu sein und einander zu überholen, was dazu führte, dass sie beide in dem einen zu öffnenden Flügel der Haustür stecken blieben. "Aber Friedel!" rief der Vater von außen, "geh doch zurück!" "Aber Mutter!" rief Hilde von innen und löste die beiden voneinander und aus der Verklemmung in der Tür, indem sie ihre Schwägerin kurz festhielt, so dass die Mutter den Sohn zuerst erreichte und nicht die Ehefrau den Mann. Der legte nur kurz den Arm um beide, denn Familienszenen auf öffentlicher Straße, noch dazu diese komisch-peinliche, waren ihm mit Sicherheit zuwider, und schob sie in den Hausflur. So war mein erster Eindruck vom kommenden Familienleben. Anschaulicher hätte sich die Rivalität der beiden Frauen um denselben Mann mir nicht darstellen können, obwohl ich sie natürlich damals noch nicht wirklich begriff. Hilde umarmte ihren Bruder erst im Hausflur und holte dann die beiden Koffer, die leicht waren. Er hatte nicht viel gesammelt an seinem Interimsort Rendsburg, wo er Arbeit gefunden hatte, nachdem er aus englischer Kriegsgefangenschaft hatte fliehen können. Es waren eigentlich nur die Koffer selber, die er zurück brachte, etwas Wäsche, zwei Hemden vielleicht. Besaß er mehr als den Anzug, den er anhatte? In einem Koffer war die Jacke seiner Marineoffiziers-Ausgeh-Uniform aus schönem blauem Tuch, das meine Mutter später wendete und aus dem sie mir einen Blazer schneiderte, auf den ich sehr stolz war.
Sonst weiß ich nur noch, dass das Begrüßungsmahl mit echtem Bohnenkaffee, sicher von Hilde im Westen schon längst für diesen Tag besorgt und seitdem gehütet, in der Wohnung der Großmutter stattfand. Wie bei Trauerfeiern: Essen als ritueller Weg in ein neues Leben. Wahrscheinlich hat Herbert dann erzählt, ein einziges Mal nur, so jedenfalls erlebte ich es später immer bei außergewöhnlichen Ereignissen, von der Reise vermutlich, vielleicht ein wenig noch von Rendsburg, sicher nicht vom Krieg. Der war vorbei, wenn auch überhaupt nicht mit dem, was er angerichtet hatte. Aber niemand mochte davon mehr sprechen. Die Anstrengung wäre zu groß gewesen, nach dem Über-Leben nun noch davon zu sprechen. Das habe ich erst Jahrzehnte später verstanden.
Wie sich der Vater weiterhin in sein altes Leben wieder einfügte, das doch sein altes Leben gar nicht mehr sein konnte, daran habe ich keine Erinnerung. Sein "Herrenzimmer", von dem ich glaube, dass der Wunsch danach ihn zur Ehe mit dem rheinischen Fräulein geführt hatte, war dahin und blieb es noch auf ein weiteres Jahrzehnt. Die Möbel von drei Zimmern standen nun in zweien, jedenfalls die meisten, weil Untermieter das dritte bewohnten. Von Möbeln hatten sie nur das Nötigste bekommen, einen runden Tisch mit vier Stühlen, den wir nicht brauchen konnten in den zwei Zimmern, das kleinere der beiden Vertikos, einen Schrank von der Großmutter. Einen alten Teppich hatte Hilde besorgt, während in unserem Wohnzimmer zwei übereinander lagen, damit nicht drei Personen den einen davon abtraten. Woher die Schlafgelegenheiten für sie geholt worden waren, weiß ich nicht. Das junge Mädchen, das zuerst allein gekommen war, blieb scheu und hilflos. Von meiner Mutter hatte sie keine Hilfe erfahren, deren Tochter sie doch hätte sein können. Mir war der Umgang mit ihr verboten. Als dann mein Vater gekommen war, gelang es wohl bald, statt der drei Personen, für die das eine Zimmer ja sowieso zu eng war, eine einzelne Untermieterin zu bekommen, die aber nicht lange blieb, und nach einer Pause wieder eine, eine junge Frau aus Erfurt, die schwanger wurde, während sie bei uns wohnte. Um die, seltsamerweise, kümmerte sich meine Mutter. Bis zu unserem Umzug nach Westberlin stand das Zimmer dann wieder leer, wurde aber nicht umgeräumt. In der Zeit, etwas mehr wohl als ein Jahr, habe ich dort geschlafen, und auch meine Kleider hingen dort im Schrank. Als mein Zimmer habe ich es niemals empfunden, habe mich tagsüber nie da aufgehalten und habe auch nie etwas hineingestellt außer vielleicht den Puppenwagen, aber nicht, weil ich mit ihm spielte, sondern damit er aus dem Weg geräumt war, also aus dem allgemeinen engen Wohnbereich. Anderes, das ich hätte hineinstellen können, besaß ich nicht. Die Schulaufgaben machte ich am Schreibtisch des Vaters, und meine wenigen Bücher standen in seinem Bücherschrank. Das Untermieterzimmer war ehemals das Elternschlafzimmer gewesen; das einzige Fenster ging zum Hof, und niemals schien die Sonne hinein. Heimisch fühlte ich mich da nicht, sollte und wollte es auch nicht, weil ja ein nächster Untermieter jederzeit eingewiesen werden konnte.
Mein Vater hat sich mit den reduzierten Wohnverhältnissen schnell arrangiert. Anscheinend konnte er das, der einzelgängerische Bank- und Graphologiemensch. Er hatte sich ja auch mit einem ganzen Krieg arrangiert und war den ihm erteilten Befehlen gefolgt, hatte sich an fremdem Ort eine Arbeit gesucht, und nun in seiner Heimatstadt fand er bald wieder eine, ehe er tatsächlich zur Deutschen Bank zurückkehren konnte, die in Berlin so nicht heißen durfte wegen der Fiktion der gemeinsamen Verwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte, sondern Berliner Disconto Bank hieß.
Ins eheliche Schlafzimmer kehrte er wohl nur zurück, weil es eine andere Schlafmöglichkeit für ihn nicht gab. Sonst habe ich nichts erlebt, das mir erlauben würde, mir das Verhältnis meiner Eltern anders als entfremdet vorzustellen. Niemals habe ich ein Streicheln, eine Umarmung, einen Kuss zwischen ihnen gesehen.
Das Verbindung zwischen meinem Vater und mir aber war zunächst über einige Jahre hin eine enge, in der kindliche Begeisterung für alles, was er tat und was so anders war, als was ich bisher in der Familie kennen gelernt hatte, ihre Rolle spielte, auch meine frühe geistige Wachheit und mein ganz gutes Aussehen gegen Ende der späten Kindheit, so dass ich ihm teilweise die Partnerin ersetzen konnte, die er nie gehabt hatte. Denn ich sehnte mich nach etwas anderem als der Ereignislosigkeit und Dumpfheit, in denen ich bis dahin aufgewachsen war. Nur Schule und Kirche waren andere Lebensformen für mich, jede in ihrer Weise, eine Art von Versprechen deshalb auch, einfach weil es sie gab, dass mein Leben nicht zwangsläufig immer zwischen Streitigkeiten, Rechthabereien und Verboten sich würde abspielen müssen. Und mein Vater fand in mir sicher den verlorenen Sohn wieder. Das konnte ich nicht gewollt haben als das Kind, das ich doch noch war, und konnte es lange nicht mal ahnungsweise erkennen. Ich blieb eine Vatertochter bis in die Pubertät hinein. Danach wurde meine Entfremdung von beiden Elternteilen umfassend, die ihrerseits wie Fremde miteinander umgingen, beinahe stumm.
Des Geigenunterrichts hätte es für das nahe Verhältnis zum Vater gar nicht bedurft. Sogar im Gegenteil, der Unterricht schadete. Die Begeisterung der Sechsjährigen für die schöne Form des Instruments, das sie entdeckt hatte, und ihre anfänglich naive Zuversicht, sie werde einfach lernen, was sie noch nicht konnte, wie das in der Schule für sie so spielerisch leicht war, hatten ja schon Schaden genommen, als ihr selbst das Klavierspiel mit seinen in den Tasten sicher eingebauten Tönen Schwierigkeiten machte. Geigenmusik übrigens kannte sie gar nicht; überhaupt keine Musik. Einen Plattenspieler gab es nicht, und im Radio, noch lange dem billigen Goebbelsschen Propaganda-"Volksempfänger", hörten weder die Mutter noch die untere Familie jemals Musik. Aber sie hatte es dem Vater geschrieben, denn inzwischen konnte sie schreiben in einer ungelenken Erstlingsschrift, dass sie von ihm das Geigenspiel lernen wolle. Er hatte sich gefreut und zugesagt, und so glaubte sie ihre Bitte nicht mehr zurücknehmen zu dürfen.
Was die Tochter nicht hatte wissen können, war, dass es auch auf dem Weg über die Graphologie eine Verbindung zum Vater geben würde, wo sie wirklich so etwas wie seine Mitarbeiterin wurde, und dass sie beide, Vater und Tochter, zusammen etwas erfinden würden, nun ja: nachmachen, eine Sendung des RIAS Berlin, die der Vater "UR-ZI-Sendung" nannte, nach ihrem Namen Ursa Zinke.
Ungetrübt blieb alles nicht, was sie beide zusammen machten, aber sie begannen es mit Begeisterung, vielleicht der Vater, der so spät sein Kind erst kennen lernte, mit noch größerer Freude als die Tochter. Die UR-ZI-Sendung muss von diesen neuen Dingen in der Familie, Graphologie, Geigen- und vermehrtem Klavierunterricht, nun auch vom Vater, die kurzlebigste Veranstaltung gewesen sein. Was geschah dabei? Vater und Tochter überlegten, was sie beide zusammen, einiges auch zusammen mit der Schwester und Tante, der übrigen Familie vortragen konnten. Das waren kleine Klavierstücke (Tante), Stücke für Violine und Klavier (Vater und Tante), auch kleine Stücke für Klavier zu vier Händen (dieselben, aber auch Vater und Tochter), es waren Gedichte, die die Tochter auswendig vortrug. Später dann spielte auch sie kleine Violinstücke, vom Vater begleitet auf dem Klavier, und Vater und Tochter lasen Geschichten aus Büchern vor. Die Tochter schrieb sogar für jedes Treffen einen kleinen Veranstaltungszettel.
Davon hat sich keiner erhalten, obwohl ich sicher bin, diese Zettel gesammelt zu haben. Irgendwann nach meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung, schon in Westberlin, hat man, haben meine Eltern alle meine Unterlagen aus Schule und Universität, die sich noch in ihrer Wohnung befanden, vernichtet, ohne mich zu fragen. Der Bericht der 14-Jährigen über den Umzug nach Westberlin war darunter, ihr erster ernsthafter Schreibversuch, ein "Theaterstück", das sie mit 10 geschrieben hatte und das sogar aufgeführt worden war, ihre Abiturrede und alle Deutschaufsätze. Ein Buch mit den Germanischen Götter- und Heldensagen, das sie als 9-Jährige geerbt hatte und dessen Mythologie, so anders als die christliche, sie faszinierte, hatte ihre Mutter verbrannt, als sie 12 war. Lange begriff sie nicht, dass auch der Vater einverstanden gewesen sein musste.
Am eindrucksvollsten von den UR-ZI-Sendungen blieben in meiner Erinnerung die Gedichte: Rilke, Goethe, Nietzsche, Trakl, nicht Hölderlin. Lange behielt ich auswendig, was ich damals auswendig lernte - und nicht verstand und doch verstand. Heute weiß ich, dass genau dies richtig war: Mir zu lernen zu geben, was die in der Schule gelernten Gedichtlein belanglos erscheinen ließ, Kinderkram, während diese den wunderbaren Geschmack des Geheimnisses enthielten. Nichts hat mich mehr zur liebenden Tochter meines Vaters gemacht als diese Gedichte, Rilkes Karussell und Panther und Herr: Es ist Zeit, Goethes Johanna Sebus, viel mehr aber noch Selige Sehnsucht, Nietzsches Die Krähen schrein. ... und andere. Aber genau an diesem Teil, dem lyrischen, brach die Veranstaltung auseinander. Denn wir brauchten ja Publikum, und das Publikum waren die anderen, die beiden Mütter und, jedenfalls zumeist, auch die Tante. Aber das Publikum merkte die enge Verbindung zwischen den Vortragenden, und es neidete sie, und es kleidete den Neid in Verachtung: Meine Mutter strickte, klapperte mit den Nadeln, ließ Wollknäuel fallen und nicht liegen, meines Vaters Mutter zischte vernehmlich zu ihrer Tochter, dass der Herbert da dem Kind doch viel zu schwere Sachen zumutete. Sie gähnten hörbar, und Hilde, zu beiden Gruppen gehörend, zum Publikum und zu den Vortragenden, gelang es nicht zu vermitteln. Mein Vater sprach scharfe Worte. Nur waren scharfe Worte bloß geeignet, die Situation noch zu verschärfen. Denn es war ja klar: Wir brauchten ein Publikum, das Publikum aber brauchte uns nicht. Im Gegenteil, es langweilte sich und tat die Langeweile kund. Was sollte anderes aus dem allem werden, als dass er und ich weder spielen noch vortragen wollten, vor allem ich nicht; dass es hier zwar einen Anfang gegeben hatte, der aber in dieser Familie nicht fortzuführen war, und dass mein Hass auf meine alles verbietende, alles klein machende Mutter hoch aufloderte. Mir konnte mit neun, mit zehn Jahren nicht klar sein, mit welcher Abmachung, wie ich mutmaße, meine Eltern ihre Ehe geschlossen hatten; mir konnte nicht klar sein, wie der Krieg und die Abwesenheit des Mannes, Sohnes, Vaters in das Leben dieser Familie wie aller Familien eingegriffen hatte (und hier immerhin waren ja weder Leben noch der Verlust von Heimat oder auch nur von wichtigem Besitz zu beklagen); mir konnte nicht klar sein, dass hier die Frauen einer Schwiegerfamilie, selbst von bescheidenem geistigem Zuschnitt, eine Frau gleich bescheidener Ausstattung, die aber ein "Lachtäubchen" gewesen war, in der fremden Stadt im Krieg seelisch allein gelassen und gebrochen hatten. So waren die "UR-ZI-Sendungen", die mein Vater uns erfunden hatte, wohl auch ein Versuch gewesen, die Familie noch einmal einigermaßen zusammenzufügen, auch wohl sein früher innig gewesenes Verhältnis zu seiner Schwester möglichst zu erneuern.
Aber das gelang nicht, und nichts sonst gelang, was schön gewesen wäre, außer eben, einige Jahre lang, zwischen ihm und mir. Oder ich könnte auch sagen: Zu niemandem in dieser viel zu eng aufeinander hockenden Familie war mein Verhältnis so schlecht wie zu meiner Mutter. Denn zusammen mit meiner Tante gab es immerhin die Friedhofsbesuche beim Grab ihres Vaters, meines unbekannten Großvaters. Und bei Großmutter und Tante gab es die ständige Sonnabendabend-Einladung zu Wiener Würstchen und Kartoffelsalat, und ich konnte sie beide immer sehr leicht dazu bewegen, ein wenig von Stargard zu erzählen, allerdings immer dasselbe. Meine Mutter hätte wahrscheinlich liebend gern von ihrer rheinischen Jugend erzählt, aber von ihr wollte ich nichts wissen. Mit dem Trällern von Karnevalsschlagern hörte sie auf, nachdem ich sie spöttisch nachgeahmt hatte.
Mit meinem Vater machte ich drei Besuche in der zerstörten Berliner Innenstadt, die mir tief im Gedächtnis geblieben sind. Diese Besuche erschienen mir schön wie Ausflüge in ein Märchenland, weil es gänzlich ungewöhnlich war, dass sie überhaupt stattfanden, denn eigentlich verließ niemand mit mir die Kuglerstraßengegend. Zugleich waren diese Besuche hoffnungslos bedrückend, weil ich Ruinen ja kaum kannte, und dann doch wieder hoffnungsvoll, weil wir eben dort, inmitten dieser wie tot erscheinenden Innenstadt, das kaufen konnten, was wir brauchten. Im einen Fall war es Papier für die Postwurfsendungen, mit denen der Vater seine graphologischen Gutachten anbot, 1000 Stück auf einmal, wie wir zusammen herstellten. Ich half mit zu falten, in den Umschlag zu stecken, den Brief zuzukleben, die Briefmarke draufzusetzen. Das Papier dafür kaufte er in einer Hinterhoffabrik, die wieder arbeitete. Und ich, die ich doch nur mitgenommen worden war, die ich eindringlich ermahnt worden war, den laufenden Maschinen fern genug zu bleiben, ich durfte andererseits Stapel von Papier anfassen, weißes und zart getöntes, das ist bestimmt wahr, durfte es mit dem Daumen aufblättern und dann wieder zu einem Stapel stauchen. Meine sinnliche Freude am Umgang mit Papier entstand bei diesem Besuch. Und sie war so stark, dass sie mich zu meinem allerersten Schreibversuch anregte, mit dem ich diese sinnliche Freude am Papier zu beschreiben suchte. Ich will annehmen, dass ich den selbst vernichtet habe, weil ich merkte, dass die Worte mein Gefühl nicht annähernd wiedergeben konnten. Vielleicht hat er sich aber doch bei dem erwähnten Theaterstück der 10-Jährigen befunden, das ich, zusammen mit einer Klassenkameradin, im Schulauftrag schrieb. Aufgeführt wurde es sicherlich nicht meinetwegen, sondern weil die andere Monika Reimann war, die Enkelin des westdeutschen KP-Vorsitzenden Max Reimann, dem vielleicht eigentlich diese Aufführung dargebracht werden sollte. Ich stellte die Sonne dar, die im Frühling die Natur zu neuem Leben erweckt.
Dann war ich mit meinem Vater in der daniederliegenden Innenstadt - um eine Geige für mich zu kaufen. Da er entschlossen war, mir Unterricht zu geben, brauchte ich eine, zunächst nur eine Dreiviertelgeige. Wahrscheinlich hat er danach inseriert, und so kamen wir in die Hinterhofwohnung einer alten Frau, die in Ärmlichkeit und Finsternis lebte, der Mann "verschollen", wie die Menschen noch lange sagten, auch wenn sie eigentlich schon 'wussten', dass jemand tot war. Die Kindergeige stammte von einem Sohn, der "gefallen" war, als Hitlerjunge im letzten Aufgebot. Ich erinnere mich noch, dass sie, die sicher sehr einsam lebte, wohl gerne viel erzählt hätte, vor allem natürlich von dem Sohn, der als Kind die Geige gespielt hatte, die sie nun verkaufen musste. Und gern hätte ich länger zugehört, als es die beiden Tassen Kaffee erlaubten, die die Erwachsenen tranken, Muckefuck sicherlich. Aber so war mein Vater auch: Er bezahlte ihr mehr für die Geige, als sie gefordert hatte, aber so schnell es ging, verließen wir die alte Frau. Er hatte wohl schon zuviel Enttäuschungen an Menschen erlitten und weigerte sich seit frühen Jahren, neue kennen zu lernen oder auch nur anzuhören. Wenige waren ihm recht gewesen: der Freund Werner Potrafky, die geliebte Julie, und dann eine Wilma Lembcke in Rendsburg wohl, und ganz spät in seinem Leben ein Bankkollege und Nachbar von schräg gegenüber, der ihn manchmal besuchen durfte und dem er seine graphologischen Gedichte vorlas. Zwei alte Männer saßen dann beisammen, die, sicher ohne dass sie das sagten, einander das Warten auf den Tod ein wenig erleichterten. Zuletzt war ihm noch die Pflegerin seiner letzten Monate recht, Herta Ludwig. Zu ihr hin habe ich einmal ein 'Du' gehört.
Die dritte Art von Besuchen in der Innenstadt, denn diese wiederholten sich, war die schönste: Wir hatten, sorgfältig eingewickelt in Zeitungen, in der Vorweihnachtszeit jeder einige "bunte Teller" dabei und stellten sie in dunklen Hauseingängen auf Treppen. Herbert Zinke, der Einzelgänger seit jeher, der jeder Plauderei abhold war, die er ja hierbei auch vermied, mein Vater, der im Grund seines Herzens sicher ein Ungläubiger war, er setzte zusammen mit seiner Tochter sehr früh im Winter und wohl schon im Jahr seiner Rückkehr vorweihnachtliche Lichter in Ruinenhäuser, in denen vermutlich ja auch Kinder lebten. Nie habe ich ihn mehr geliebt, als wenn wir zusammen diese Gänge machten, 1948, 1949, 1950 mit Sicherheit, vielleicht noch 1951. Auf seine scheue Art war er da vielleicht eine Art Nothelfer. Aber nur nicht sprechen müssen dabei!
Und doch wurde das Verhältnis zu meinem Vater, dem nicht verlorenen, dem tatsächlich zurückgekommenen, der mir innerhalb der Familie das Licht des Geistes angezündet hatte, im Lauf der Jahre eiskalt, und bevor es eiskalt wurde, also doch immerhin beruhigt, ist es durch Höllen von Hass meinerseits und wahrscheinlich unendliche Enttäuschung auf seiner Seite gegangen. Vielleicht bin ich die zweite Liebe seines Lebens gewesen? Mit dem früh, aber eigentlich sanft pubertierenden Mädchen kam er nicht mehr zurecht, das ihn, wie es sein muss, nicht mehr nur bewunderte. Denn es hatte, als es 12 war, in seinem Konfirmandenpastor ein Ideal an Geistigkeit gefunden, vermischt wohl schon damals mit wechselseitigem, wenn auch mir noch kaum fassbaren Begehren. Aber was ich in Johannes' dunklen Augen fand, muss ihm aus meinen dunklen Augen widergestrahlt haben. Und das, denke ich mir, wird auch für meinen Vater in ihnen zu sehen gewesen sein. Das Glück einer verehrenden Liebe, denn die begann damals, ist nicht zu verbergen. Da es eher als diese entstanden war, schützte es auch die im selben Jahr beginnende erst kindliche, dann nicht mehr kindliche Liebe zu Hajo. Und so war die Reaktion des Vaters wohl eine unklare und von ihm aus gar nicht begründbare Eifersucht auf den Pfarrer. Deshalb hatte er auch keinen Beweggrund, mir einen Wechsel des Konfirmandenunterrichts zu verordnen.
Als ich 15 war, habe ich gegen einen längst gefassten Entschluss, dergleichen niemals zu tun, meinem Vater eine flüchtige Verliebtheit mitgeteilt, einen Briefwechsel angekündigt. Diese Mitteilung war, mir völlig klar bewusst, mein letzter Versuch gewesen, Vertrauen zu erwerben, indem ich Vertrauen zeigte. Der Briefwechsel wurde mir verboten. (Ich umging das Verbot mit der Adresse einer Klassenkameradin.) Heute glaube ich, dass mein Vater, der viel zu weit dachte, mich bewahren wollte vor einer Ehe, wie er sie geschlossen hatte, und dass darin sogar noch etwas von seiner Liebe zu mir enthalten war, die aber eine besitzen wollende gewesen sein muss. Danach erfuhren meine Eltern endgültig nichts mehr von meinen Liebesdingen und sonst sowieso und lange schon nur Oberflächliches. Später rannte ich in ein erstes Ehe-Unglück mit einem hochsensiblen Neurotiker, und wir, mein Vater und ich, haben drei Jahre lang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt und danach nur noch einen, in dem er seine bleibende Verletztheit hinter nicht mehr aufzubrechenden Sarkasmen verbarg.
Denke ich aber heute an meinen Vater, der alle seine persönlichen Erinnerungen vor mir vernichtet hat, alle, auch seine Briefe aus den Krieg, so bleibt die schreckliche Äußerlichkeit, dass ich aber die Feldpostnummer weiß, unter der sie geschickt wurden: M (für Marine) 26710. Aber lieber denke ich an den, dem ich auf die Hüfte sprang, als ich ihn auf der Straße vor unserem Haus sah; an den, der mich an meinen Händen fasste und in die Luft schwang, an den, der mich Graphologie gelehrt hat; nicht so gern an den, der mir das Geigespielen beizubringen versucht hat; aber sehr, sehr gern an den, der mir unverständliche Gedichte zugemutet hat im Vertrauen darauf, dass sie mir eben deshalb im Sinn blieben und eines Tages verständlich werden würden; am liebsten aber an den, der mit mir bunte Weihnachtsteller auf dunkle Treppenstufen gestellt hat.
Jetzt beim Schreiben frage ich mich manchmal, ob ich den Geigenunterricht auch dann bekommen hätte, wenn das nicht mein eigener vorwitziger Wunsch gewesen wäre, und glaube: eher nein. Sicher haben Bruder und Schwester ihr Musikmachen als Teil ihrer gemeinsamen Jugend, ihrer gemeinsamen Vergangenheit angesehen, auch als etwas, was sie mit ihrem früh verstorbenen Vater verband, der ihnen gerne zuhörte. Das hat mir die uralte Fiddy erzählt. Die Geschwister hätten das Zusammenspiel nach dem Krieg jedenfalls ohne mich weder aufnehmen können. Das aber hätte in der Familiendynamik bedeutet: Die von außen Gekommene, meine Mutter, wäre wieder ausgeschlossen gewesen. Daher passte es wohl ganz gut, dass ich mir einbildete, ich könne Geige spielen lernen, denn zum mindesten üben konnte ich in unserer Wohnung, allerdings niemals lange. Bald hieß es ja immer: "Die Nachbarn, die Nachbarn".
Und sowieso wurde nichts draus, obwohl sich der Unterricht, einmal angefangen, über nicht weniger als sechs Jahre hinzog. Ich bin ganz einfach musikalisch unbegabt, das ist der wichtigste, der entscheidende Grund. Und bei einem Unterricht des eigenen Vaters konnte aus dem bisschen, was überhaupt werden konnte, nur noch weniger werden, denn einmal ließ er wahrscheinlich vielerlei durchgehen, was ein fremder Lehrer nicht getan hätte, und andererseits übte er selbst nicht. Er spielte vom Blatt, Geige und auch Klavier, und an Beethoven-Sonaten schien er sich zu berauschen. Ich aber habe, aus Mangel an Begabung und bei ihm nicht mehr gelernt, als gedruckte Noten auf dem Instrument wiederzufinden. Und wo sie auf der Geige nun wirklich waren, darüber war ich nie sicher. Das schwierigste, was ich spielte, war die eine der beiden Geigenstimmen zu einem Klavierauszug von Mozarts Kleiner Nachtmusik, wobei die Tante Hilde, auch wohl mehr schlecht als recht, den Klavierpart versah. Jahrelang behielt ich das Trauma, die beiden wären mit Spielen fertig gewesen, ich aber hätte noch drei Takte gespielt. Aber kann das so gewesen sein? Hätten nicht Vater und Tante aufgehört zu spielen, als ich vorweg eilte oder, wer weiß, zurückgeblieben war, es merkte und irgendwas übersprang oder zu überspringen versuchte? Es war jedenfalls nichts mit Zusammenspiel. Ich konnte die anderen Stimmen nicht hören, wenn ich nicht beim Abarbeiten der Noten in der eigenen aus dem Takt kommen sollte. Aber da ich Takt und Rhythmus nicht aus der Musik nahm, die ich hörte, sondern den Takt mit dem Fuß klopfte, konnte das nichts werden. Und je weniger es wurde, um so mehr gaben Vater und Tochter einander die Schuld daran, ohne aber die Kraft zu haben, das scheiternde Projekt so auch zu benennen und aufzugeben.
Das hätte mir jedenfalls ein weiteres, noch schlimmeres Musik-Trauma erspart. Meine Schule in der Scherenbergstraße nämlich und dort meine Musiklehrerin Renate Paschiller und ihr Freund, mein angeschwärmter Deutschlehrer Norbert Rybacki, gründete ein Schulorchester. 1951 oder 1952 mag das gewesen sein. Heute kommt es mir tollkühn vor, denn die Einheitsschule war damals erst 8-klassig, also die ältesten Schülerinnen vierzehn. Immerhin war jedenfalls der Versuch der Orchestergründung möglich. Es gab also in unserer Gegend noch so viel Bürgerlichkeit, dass Kinder privaten Musikunterricht bekamen. Ich wurde zum Mitspielen aufgefordert, ob nach Vorspielen, das weiß ich nicht mehr. Unter den zweiten Geigen saß ich, sagt mein Bildgedächtnis. Natürlich habe ich auch in diesem Kinderorchester auf die Noten gestarrt und nie den Kopf zur Dirigentin erheben können, und ich frage mich, ob ich richtig spielte. Lange habe ich gemeint: So schrecklich daneben müsse ich gespielt haben, dass man mir als Termin einer kleinen Aufführung, für die wir geprobt hatten, absichtlich einen falschen genannt hatte. Denn als ich an einem Sonntag Abend um 18 Uhr mit meiner Geige zur Schule ging, fürchterlich aufgeregt natürlich, da war außer mir kein Mensch zu sehen, der auch dorthin gegangen wäre, und der Hausmeister schloss gerade das Tor. Die Aufführung, sagte er, sei morgens um sechs gewesen. Wahrscheinlich war's ein ruppiger Berliner Hausmeister-Scherz, aber diese Deutung ist mir erst lange danach eingefallen. Mein Vater schrieb der Musiklehrerin einen um Erklärung bittenden Brief, als am nachfolgenden Montag weder sie noch eine der Mitschülerinnen mich gefragt hatten, warum ich zur Aufführung nicht gekommen sei. Die schriftliche Antwort lautete, das "Konzert" sei am Sonnabend Abend gewesen, man habe eine Weile vergeblich auf mich gewartet, und Herr Rybacki habe dann meine Stimme übernommen. Ist es so gewesen? Es klingt wahrscheinlich. Nur ich in meiner Aufregung und Angst hatte mir einen falschen Tag ins Gehirn gesetzt. Über viele Jahre hin habe ich es nicht glauben können, dass der Fehler bei mir lag, und habe an der seelischen Verletzung laboriert. Diese Erinnerung aus der Kinderzeit war, zusammen mit der an die in der Öffentlichkeit der Schule verlorene blutige Binde die, die am längsten brauchte, bis sie mich innerlich nicht mehr verstörte.
Den Musikunterricht aufzugeben, das gelang erst, als wir nach Westberlin gezogen waren und sich dort ein Nachbar fand, der von meinem Geigenspiel gehört hatte und sich anbot, mir kostenlos Unterricht zu geben. Dazu musste ich ihm vorspielen, nicht viel. Denn er hatte zugehört mit mühsam beherrschtem Entsetzen: Die Geige war nicht richtig gestimmt (mein Vater glaubte es noch unmittelbar vor dem Vorspiel getan zu haben); meine Griffe waren allesamt daneben, wie er mir und dem Vater an seinem richtig gestimmten Klavier bewies; an Musikalität und Geist des Spiels fehlte es in jeder Weise. Und es war deutlich, dass das nicht allein an mir lag. Da erst durfte ich aufhören, mit 14 Jahren. - Die beiden Geigen, seine und meine zweite, normal große, habe ich im vorigen Jahr verkauft, mit einiger Wehmut.
Aus meiner Kinderliebe zum zurückgekehrten Vater, der einzigen Person in der Familie, der ich mich verwandt fühlte, wurde ein immer ambivalenteres Verhältnis der pubertierenden und dann ein gänzlich distanziertes der erwachsenen Tochter zu ihm. Er fühlte wohl, dass ich ihm verloren ging. Manchmal muss ich Situationen in der Familie sehr richtig kommentiert haben, so richtig, dass sein Jähzorn ihn überkam und über mich kam und nicht nur seine Hand auf mich losfuhr zu einer Ohrfeige, sondern er mich prügelte in unbeherrschtem Zorn. Aus der Ambivalenz, in der ich die Liebe noch festzuhalten trachtete, deren Verschwinden ich nicht verstand, wurde Hass, als mich der Vater einmal - ich lag auf dem Boden vor seinem/unserem Schreibtisch - schlug, bis die Mutter mich wegzog wie einen geprügelten Hund. Denn auch die teuflische Ausweglosigkeit in meinem Kinder-Leben, erfunden von der Mutter, kannte er sehr wohl: "Hör auf zu heulen, oder es setzt noch mehr."
Unsere graphologische "Zusammenarbeit" hörte natürlich auf über solchem. Für sich hatte der Vater etwas anderes gefunden: eine Verbindung von Graphologie und Gedicht. Denn ähnlich wie er eine gewisse musikalische Begabung ja durchaus hatte, so auch eine "dichterische". Der jambische Rhythmus geriet ihm leicht, und die Reimworte, auf die er nicht verzichtete, fielen ihm nicht zu schwer. Für andere Fälle benutzte er ein Reim-Wörterbuch. Mit dem im Westen beginnenden Wirtschaftswunder wurde die Nachfrage nach graphologischen Deutungen und daran angehängten laienpsychologischen Ratschlägen so gering, dass sich der Aufwand der Postwurfsendungen nicht mehr lohnte. Nun gab es graphologische 'Gutachten' in Form von vier Vierzeilern, gereimt, wie gesagt. Das Material dafür, also die Handschriften, fand er in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften. Eine faksimilierte Unterschrift genügte ihm schon. Er schrieb wohl auch beinahe an jeden, der dort irgendwo erwähnt war, und bat um eine Schriftprobe. Er erhielt sie fast immer, ob es nun die Autogrammkarte eines Filmstars war oder ein kurzer Brief eines gerade berühmt Werdenden oder wirklich Berühmten. Auffällig viele, wie mir schien, suchten den Briefaustausch mit ihm. Aber da blieb er der Einzelgänger, der er immer gewesen war. Zu mehr als dem Zuschicken des entstandenen Gedichts verstand er sich nie.
Diese graphologischen Gedichte schrieb ich mit der Schreibmaschine ab und bekam dafür das einzige Geld, das ich als Kind und Jugendliche je von ihm bekommen habe. Das war nicht mehr Zusammenarbeit, sondern Geldverdienen. 50 Pfennig pro Gedicht. Diese Art der Vermischung von "Dichtung" und Graphologie, immer vier Vierzeiler, selten einmal fünf, verschärften den Dissens zwischen dem Graphologen und seiner heranwachsenden, also auch zu Urteilsfähigkeit gelangenden Tochter. Denn gnadenlos las er sie vor, alle, meiner Mutter und mir, ganz einerlei, ob wir (oder ich) den grapho-Bedichteten kannten oder, der häufigere Fall, nicht. Ohne Selbstkritik, wie mir schien, schrieb er über jeden seine 16 oder 20 Verse, ob ihm nur eine Unterschrift vorlag oder eine ganze Textpartie. Er schrieb 16 Verse auch dann, wenn er die Normschrift nicht kannte, nach der einer schreiben gelernt hatte, die englisch-amerikanische zum Beispiel. Er scheute sich nicht einmal, seine 16 Verse zu produzieren, wenn jemand japanisch oder chinesisch schrieb. Den Streit darüber, ob das verantwortbar sei, dass es nicht verantwortbar sei, wie ich meinte, hielt ich durch, solange ich mit ihm, mit meinen Eltern zusammen lebte, und das war bis zum Ende meines Studiums. (Die Gründe dafür will ich hier nicht aufzählen.) Als ich ihn nach dem Studium und den erwähnten drei Jahren Pause wiedersah, las er aus der damals neuesten Produktion vor, als habe es meine Kritik an seinem unwissenschaftlichen Vorgehen und seine Warnung vor der ersten der beiden misslungenen Ehen nie gegeben, als sei in keinem dieser Bereiche irgendetwas zu besprechen. Mir war das recht so. Mein längst resigniertes bloßes "ja" nach jeder Lesung schien ihn nicht zu kränken. Warum nur hat er überhaupt vorgelesen?
Diese Produktion blieb sein Lebensinhalt, als Bruder und Schwester in getrennten Wohnungen, jeder des Lebenspartners durch Tod beraubt, in gewisser Weise an die Intensität des Umgangs miteinander wie in ihrer Jugend wieder anknüpften, täglich telefonierend. Seit ich aus dem Haus war, hatte die Schwester die Gedichte des Bruders aus seiner schwer lesbaren Handschrift in die Schreibmaschine übertragen. Übrigens will ich nicht verhehlen, dass ich die Handschrift meines Vaters geliebt habe wie nur selten eine andere. Schon als Schulkind habe ich sie mühelos lesen können. Und will auch nicht verhehlen, dass der Vater mir die Entscheidung über seinen literarischen Nachlass abgenommen hat. Sie wäre mir schwierig geworden, denn zum Aufbewahren hätte ich mich nicht gern entschlossen, zum Wegwerfen aber auch nicht. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat ihn, diesen sonderbaren Nachlass, nach Beispielen, akzeptiert, und so liegt er an einem der ehrenvollsten Orte, die in Deutschland Nachlässe bewahren. Aber auch das Folgende will ich nicht verhehlen: Es war ein Irrtum. Denn als über Monate keine Bestätigung kam, als ich dann anrief, da hat mein Gesprächspartner gewagt, mir das zu sagen, die Annahme sei ein Irrtum gewesen, und meiner Bewertung "bizarr" hat er erleichtert zugestimmt. Das Verzeichnis der Nachlässe in Marbach, das man im Internet aufrufen kann, enthält den Namen meines Vaters nicht.
Er ist so einsam gestorben, wie er sich gemacht hatte, sitzend auf seinem Ehebett, das ihm wohl keine Freuden geboten hat. Mich hat er darin gezeugt (den Bruder ja auf der Hochzeitsreise). Vielleicht war ihm das eine kleine Freude. Als er mich kennen lernte, hat er mich geliebt, anders sicher als ich ihn, aber sicher geliebt, und das an Stelle seiner Frau, wie das nicht selten ist zwischen Vätern und Töchtern, wenn die Ehen der Eltern leer geworden oder niemals erfüllt gewesen sind. Aber er hat mich, als ich mit der Pubertät ein eigener Mensch zu werden suchte, nicht vertrauensvoll freigeben können, frei auch für Umwege. So hat er mich ganz verloren.
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Was ich von meinem Vater, wäre er wieder da, ganz konkret erhoffte, das war: Er sollte mir Geige spielen beibringen. Denn im Schlafzimmerschrank, versteckt hinter seinen in Berlin aufbewahrten weniger guten Anzügen, hatte ich eines Tages - die Mutter war wohl einkaufen gegangen, was noch immer mit langen Anstehzeiten verbunden war - einen Geigenkasten entdeckt. Vorsichtig nahm ich ihn heraus, denn ich war in der letzten Zeit häufig gescholten worden, weil ich ungeschickt gewesen war, auch Porzellan hatte fallen lassen. Unbotmäßig war ich zudem gewesen, hatte mir eigenmächtig aus meinen zu Tolle und Zöpfen bestimmten Haaren vor dem Spiegel im Flur einen Pony geschnitten. Ein entsetzliches Gezeter samt etlichen Ohrfeigen war gefolgt. Haare gehörten nicht dem Kind, sondern seiner Mutter, und da ein Termin beim Fotografen war vorgesehen gewesen war, kriegte der mich nun mit Tolle und Zöpfen und Ponyfransen vor die Linse. "Wie hässlich du so aussiehst!" hatte die Mutter gesagt, ehe wir losgingen.
Behutsam also setzte ich mich mit der Geige auf die Couch in der Wohnzimmerecke, die mir nachts zum Schlafen hergerichtet wurde, behutsam nahm ich den Geigenkasten auf den Schoß und sah ihn an. Das habe ich jetzt vor dem Schreiben nochmals getan, und so ähnlich wird es damals gewesen sein. Schwarz war er, hatte zwei Steckschlösser, wie ich sie von meinem Schulranzen her kannte, und zwischen ihnen noch ein abschließbares. Kein Schlüssel da, aber der Kasten war nicht versperrt. Zaghaft öffnete ich ihn. Innen waren er und sein Deckel ausgeschlagen mit einem dunkelgrünen Stoff, der sich ähnlich anfühlte wie der von den beiden Hüten meiner Mutter. Filz schien das hier auch zu sein, nur dünner. Im Deckel war eine lange dünne Stange aus Holz eingeklemmt mit harten Haaren drauf gespannt. Es war Platz für noch so ein Ding, aber es gab nur dies eine. Und ein rundes Schild klebte da, darauf stand: "J. Altrichter, Hof-Instrumenten-Fabrik Frankfurt a. d. Oder". Ich merkte es mir, vor allem, weil ich mich wunderte, dass Instrumente wie dies auf Höfen hergestellt wurden. In dem Kasten im grünen Filz lag also das Instrument, die Geige. Ich wusste den Namen, eine Geige war in irgendeinem Buch vorgekommen und abgebildet oder beschrieben gewesen. Oder die Tante hatte davon erzählt. Die Geige war aus braunem Holz, hatte eine sonderbar geschwungene Form, wie ich sie noch niemals gesehen, schon gar nicht angefasst hatte. Oben drauf waren allerlei seltsame Aufbauten, eine schwarze Schale, zwei Stücke schwarzes Holz, über das drei dünne Fäden liefen, die am anderen Ende des Hof-Instruments zu vier drehbaren schwarzen Holzstücken in einer Art Schnecke führten. Ich zupfte daran. Die beiden rechten ergaben schöne, ziemlich hohe Töne, die linke einen dunkleren. Dazwischen, so sah ich dann, fehlte anscheinend so eine Tonschnur. Erschrocken, dass ich diese Töne hervorgebracht hatte, nahm ich nun die Geige ohne den Kasten in meine beiden Hände, hielt sie dann mit der linken fest und fuhr scheu mit den Fingern an ihren so schön geschwungenen Seiten entlang, streichelte die ebenfalls leicht geschwungene glatte Unterseite und führte dann meinen rechten Zeigefinger über die beiden dünnen Linien auf der Oberseite, die die Form der Geige nachzeichneten. In diese Oberseite waren zwei S-artige Löcher geschnitten. Ich versuchte hineinzuschauen und merkte, da innen waren Buchstaben. Dort stand wieder "J. Altrichter" usw. und noch: "Nach Antonius Straduarius gefertigt" und: "anno 1911". Was das hieß, verstand ich nicht.
So ungefähr könnte es gewesen sein, mein erstes zärtliches Erkunden einer Geige. Ich denke, es war noch im Jahr 1946, nach jener Abenteuerreise ins Rheinland. Das Betasten dieses wundervollen Gegenstandes hatte niemand hören können, auch nicht meine Großmutter in der Wohnung unter uns und auch nicht die Untermieter. Ich wollte eigentlich nicht, dass jemand mich und die Geige hörte, aber natürlich war sie dazu da, zum Tönen gebracht zu werden, und da, das ahnte ich, würde ein Problem liegen. Ich zupfte wieder die Saiten, inzwischen weiß ich ja, dass sie so heißen, zupfte mit dem Daumen der rechten Hand und legte die Finger der linken auf verschiedene Stellen, und auch die Töne wurden verschieden. Noch hatte ich aber den Geigenstock, den Bogen, und die Geige nicht zusammengebracht. Ich griff ihr mit der linken Hand an den Hals und drückte sie an meinen und rutschte schließlich mit dem Kinn in die schwarze Vertiefung oben, und der Geigenhals rutschte zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Es war für meine kleinen Hände und Arme alles ein bisschen zu groß, fühlte sich aber richtig an. Vor allem das Kinn schmiegte sich sanft in die schwarze Stütze. Der Bogen gehörte demzufolge in die rechte Hand und war vorn anzufassen, wo mehr Holz war. Ich konnte ihn aber nicht halten, er war mir viel zu lang. Aber er war es anscheinend, der aus den Saiten die Töne herausholen sollte, und so versuchte ich wieder und wieder, ihn über eine Saite zu führen, doch er rutschte jedes Mal schräg weg. Aber er erzeugte dadurch einen Ton. Ich also erzeugte Töne auf einer Geige. Sie waren nicht schön, doch wahrscheinlich konnte ich lernen, schöne Töne auf einer Geige zu erzeugen. Ich hatte ja auch lesen gelernt.
Mein mir kaum bekannter Vater musste das können, schöne Töne auf einer Geige erzeugen, dachte ich, denn wenn meine Mutter es ebenfalls gekonnt hätte, so hätte sie doch sicher mit der Geige gespielt wie ich mit meinem Teddy. Mehr als eigentlich sowieso immer wünschte ich mir, dass mein Vater da sein sollte. Bestimmt würde er mir zeigen, wie ich aus der Geige Töne herausholen könnte. Eine Schwierigkeit war eben nur, dass andere diese Töne auch hören, also wissen würden, was ich konnte oder erst mal noch nicht konnte, und außerdem: was ich empfand. Schon in diesem jungen Alter, mit sechs, sieben, mit acht Jahren oder noch früher, fand ich mich von Personen umgeben, denen ich mein Innerstes nicht öffnete. Von der Rückkehr meines Vaters hoffte ich, dass das mit ihm möglich sein würde. Das war auch so, anfangs, aber sehr lange hielt es nicht an.
Nach dieser ersten beglückenden Entdeckung legte ich die Geige zurück in ihr filzenes Behältnis und klemmte gerade den Bogen im Deckel fest, als meine Mutter ins Zimmer trat. "Du hast Papas Geige genommen", sagte sie unnützerweise, denn das war ja offenkundig, und: "Du kannst doch gar nicht spielen."
"Wenn Papa kommt, wird er es mir zeigen. Ich will es lernen."
"Ja, Papa wird es dir zeigen, wenn er kommt. Jedenfalls, wenn du dich nicht zu dumm anstellst dabei. Aber du wirst das Instrument jetzt zurückstellen in den Schrank und wirst es alleine nicht mehr anrühren. Wenn du es vorher kaputt machst, so wie du immer wieder Sachen kaputt machst, kannst du nicht lernen, darauf zu spielen. Hast du mich verstanden? Ohne deinen Vater wirst du die Geige nicht mehr anrühren."
"Ja, Mutti", sagte ich, denn immerhin redete ich sie damals noch an, klappte den Geigendeckel zu und schloss den Kasten. Dabei bemerkte ich, dass sein Griff umwickelt war mit dem Band einer braunen Zopfschleife, das ich erkannte, umwickelt und das Band grob vernäht mit grauem Zwirn. Das musste meine Mutter an einem Abend gemacht haben, als ich schon schlief. Also hatte sie den Geigenkasten in der Hand gehabt und dann doch bestimmt die Geige auch. Sicher hatte sie dabei an meinen Vater in Rendsburg gedacht.
"Ja", hatte ich gesagt, als sie ihr Verbot aussprach. "Nein", dachte ich. Ich würde dies sonderbare klingende Holz von nun an immer wieder berühren müssen. Schon damit war ich auf Heimlichkeit angewiesen und darauf, gelegentlich mit der Geige allein zu sein. Aber meine Berührung sollte Klänge hervorrufen, und das wären dann eben Klänge, die andere hören würden, aber nicht hören sollten und nach dem Verbot ja auch nicht hören durften. Wie das geschehen konnte, wusste ich noch nicht. Aber ich wollte das Instrument zum Klingen bringen, ehe mein Vater wiederkäme.
"Bitte, Gott", betete ich abends in Gedanken meine Kinderbitte, "mach, dass mein Vater bald zurückkommt." Aber er kam noch nicht, kam nach dem Treffen im Rheinland noch zwei kinderlange Jahre nicht.
Die Geige holte ich trotz des Verbots manchmal heraus, streichelte sie und zupfte leise ihre Saiten in der Vorfreude darauf, dass ich sie zu spielen lernen würde. Sie war für mich das Unterpfand für die Wiederkehr meines Vaters. Es schlich sich aber auch eine Befürchtung ein, dass ich das vielleicht doch nicht können würde, Geige spielen. Hilde Heidbrink nämlich, meine bewunderte ältere Freundin, die im Eckhaus Schönhauser wohnte, hatte mir erzählt, ein Freund ihres Bruders habe Geigenunterricht. Er habe Unterricht bei einem älteren Herrn, der früher zu den Berliner Philharmonikern gehört habe und ihn für sehr begabt halte. Doch er müsse jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden üben. Mein Vater aber hatte all die Jahre, die er fort war, also fast seit meiner Geburt, gar nicht spielen können, überlegte ich. Vielleicht hatte er es verlernt, und dann könnte ich es auch nicht lernen. Geld für Unterricht, das hatte die Mutter gesagt, war nicht vorhanden.
Es gab noch einen anderen Grund für mich, an meiner zuerst so hochgemut angenommenen Lernfähigkeit für die Geige zu zweifeln. Denn in der unteren Wohnung stand ein Klavier, das mein Vater ebenfalls spielen konnte und auch meine Tante Hilde. Natürlich hatte ich das schon als ganz kleines Kind immer mal aufgemacht und auf die Tasten getippt, auch mit den Händen darauf gehauen, war auch mit der kleinen Faust ein paar Mal die Tastatur entlang gewitscht, ehe das für alle Zeit verboten wurde. Aber das waren nur Kindereien, wie wenn ich auf die kleine Trommel schlug, die ich eine Weile hatte und die bald kaputt ging, in der Redeweise meiner Mutter natürlich: die ich bald kaputt gemacht hatte. Erst als ich fragte, warum es schwarze und weiße Tasten gebe und warum die schwarzen höher ständen, bot mir die Tante an, mich Noten zu lehren und kleine Kinderlieder zuerst mit einem Finger spielen zu lassen, dann mit einfachen Akkorden, dann mit kleiner Begleitung der linken Hand. Das lernte ich, langsam, angestrengt und nie so, dass der Erfolg in mehr bestand als darin, die auf Papier gedruckten Noten auf der Klaviertastatur wiederzufinden. Ich spielte langsam, wenn ich die Töne nicht fand, ließ mir falsche, die ich sogar hörte, durchgehen, fand nicht präzise den richtigen Rhythmus und schon gar nichts vom Geist eines kleinen Stücks. Die Tante mochte nicht viel korrigieren, weil das ja auch hieß: wiederholen, und das wieder rief unfehlbar beim Klavier meine Großmutter wie dann später bei der Geige meine Mutter auf den Plan: Das Geklimpere/Gekratze sei den Nachbarn nicht zuzumuten. Von diesen Klavier-Spielereien nahm ich einen ganz massiven Argwohn mit: Wenn schon die mir so schwer fielen. wo doch die Tasten die Töne eindeutig angaben (oder angeben sollten, denn natürlich war das Klavier verstimmt, und Geld für einen Stimmer war nicht vorhanden) - wie sollte ich denn jemals die Töne auf der Geige finden?
Als sich mein Vater tatsächlich ansagte, wirklich nach Hause kommen würde, da schrieb er zugleich in seinem Telegramm, wir sollten nicht etwa zum Bahnhof kommen und dort auf ihn warten. Züge verkehrten noch immer unregelmäßig. Deshalb konnte er nicht einmal den Tag seiner Rückkehr verbindlich nennen. Einen Luxus wie Telefon hatten wir natürlich nicht, bekamen wir erst in Westberlin 1956, und es war natürlich auch dann nicht für Ferngespräche zu benutzen. Allerdings machte das nichts. Meine Familie hatte keine Freunde und mit den meisten Verwandten keinen Kontakt. Mein Vater rief aber nun unregelmäßig seine Mutter an, die seit 1956 ebenfalls im Westen wohnte. Meine Mutter schrieb ihrem rheinischen Bruder und dessen Familie weiterhin seltene, kurze, nichts sagende Briefe und benutzte das Telefon wohl gar nicht. Ich durfte als Schülerin den heiligen Apparat ebenfalls praktisch nicht benutzen, denn mit Klassenkameradinnen konnte ich mich schließlich in der Schule verabreden. Wir hatten das Telefon, weil meine Großmutter das verlangt hatte, als sie spät im Leben noch einmal umziehen musste.
Über alle Maßen aufgeregt war ich, den so lange erwarteten Vater endlich zu sehen, und wollte natürlich die erste sein. Ich nervte die Familie mit Fragen nach etwas, was sie ja selbst nicht wissen konnte: ob er wohl eher am Vormittag käme oder eher am Nachmittag, vielleicht gar nachts, und dass er bitte nicht vormittags kommen sollte, weil ich doch da in der Schule sei, und dergleichen mehr. Wann immer ich da war und nicht ins Bett geschickt wurde, stand ich auf dem Balkon und sah nach dem möglicherweise gerade in jener Minute zurückkehrenden Vater aus.
Und wirklich: Ich war es, die ihn zuerst sah, an einem Sonnabend Nachmittag, am Kantstein des gegenüberliegenden Bürgersteigs stehend, rechts und links je einen holzbeschlagenen Koffer. Ich winkte, und er winkte zurück. Er war es also. Ich raste durch unsere Wohnung und schrie: "Papa ist da!" und raste die Treppe herunter, trommelte mit beiden Fäusten an die Wohnungstür der Großmutter und schrie wieder: "Papa ist da!", rutschte das letzte Stockwerk verbotenerweise auf dem Geländer herunter (verboten, weil es angeblich gefährlich war; in Wahrheit aber war es verboten, weil es schöne Gefühle in der verbotenen Region "da unten" machte), öffnete heftig die Haustür, und da stand er schon auf unserer Seite des Bürgersteigs, und ich sprang auf seine Hüfte und umarmte ihn, er aber stellte mich schnellstens wieder auf die Straße. Denn von oben herab waren inzwischen natürlich eilends Ehefrau, Mutter und Schwester gekommen, diese mit geziemendem töchterlichem Abstand, meine und seine Mutter aber mit dem Versuch, jeweils die erste zu sein und einander zu überholen, was dazu führte, dass sie beide in dem einen zu öffnenden Flügel der Haustür stecken blieben. "Aber Friedel!" rief der Vater von außen, "geh doch zurück!" "Aber Mutter!" rief Hilde von innen und löste die beiden voneinander und aus der Verklemmung in der Tür, indem sie ihre Schwägerin kurz festhielt, so dass die Mutter den Sohn zuerst erreichte und nicht die Ehefrau den Mann. Der legte nur kurz den Arm um beide, denn Familienszenen auf öffentlicher Straße, noch dazu diese komisch-peinliche, waren ihm mit Sicherheit zuwider, und schob sie in den Hausflur. So war mein erster Eindruck vom kommenden Familienleben. Anschaulicher hätte sich die Rivalität der beiden Frauen um denselben Mann mir nicht darstellen können, obwohl ich sie natürlich damals noch nicht wirklich begriff. Hilde umarmte ihren Bruder erst im Hausflur und holte dann die beiden Koffer, die leicht waren. Er hatte nicht viel gesammelt an seinem Interimsort Rendsburg, wo er Arbeit gefunden hatte, nachdem er aus englischer Kriegsgefangenschaft hatte fliehen können. Es waren eigentlich nur die Koffer selber, die er zurück brachte, etwas Wäsche, zwei Hemden vielleicht. Besaß er mehr als den Anzug, den er anhatte? In einem Koffer war die Jacke seiner Marineoffiziers-Ausgeh-Uniform aus schönem blauem Tuch, das meine Mutter später wendete und aus dem sie mir einen Blazer schneiderte, auf den ich sehr stolz war.
Sonst weiß ich nur noch, dass das Begrüßungsmahl mit echtem Bohnenkaffee, sicher von Hilde im Westen schon längst für diesen Tag besorgt und seitdem gehütet, in der Wohnung der Großmutter stattfand. Wie bei Trauerfeiern: Essen als ritueller Weg in ein neues Leben. Wahrscheinlich hat Herbert dann erzählt, ein einziges Mal nur, so jedenfalls erlebte ich es später immer bei außergewöhnlichen Ereignissen, von der Reise vermutlich, vielleicht ein wenig noch von Rendsburg, sicher nicht vom Krieg. Der war vorbei, wenn auch überhaupt nicht mit dem, was er angerichtet hatte. Aber niemand mochte davon mehr sprechen. Die Anstrengung wäre zu groß gewesen, nach dem Über-Leben nun noch davon zu sprechen. Das habe ich erst Jahrzehnte später verstanden.
Wie sich der Vater weiterhin in sein altes Leben wieder einfügte, das doch sein altes Leben gar nicht mehr sein konnte, daran habe ich keine Erinnerung. Sein "Herrenzimmer", von dem ich glaube, dass der Wunsch danach ihn zur Ehe mit dem rheinischen Fräulein geführt hatte, war dahin und blieb es noch auf ein weiteres Jahrzehnt. Die Möbel von drei Zimmern standen nun in zweien, jedenfalls die meisten, weil Untermieter das dritte bewohnten. Von Möbeln hatten sie nur das Nötigste bekommen, einen runden Tisch mit vier Stühlen, den wir nicht brauchen konnten in den zwei Zimmern, das kleinere der beiden Vertikos, einen Schrank von der Großmutter. Einen alten Teppich hatte Hilde besorgt, während in unserem Wohnzimmer zwei übereinander lagen, damit nicht drei Personen den einen davon abtraten. Woher die Schlafgelegenheiten für sie geholt worden waren, weiß ich nicht. Das junge Mädchen, das zuerst allein gekommen war, blieb scheu und hilflos. Von meiner Mutter hatte sie keine Hilfe erfahren, deren Tochter sie doch hätte sein können. Mir war der Umgang mit ihr verboten. Als dann mein Vater gekommen war, gelang es wohl bald, statt der drei Personen, für die das eine Zimmer ja sowieso zu eng war, eine einzelne Untermieterin zu bekommen, die aber nicht lange blieb, und nach einer Pause wieder eine, eine junge Frau aus Erfurt, die schwanger wurde, während sie bei uns wohnte. Um die, seltsamerweise, kümmerte sich meine Mutter. Bis zu unserem Umzug nach Westberlin stand das Zimmer dann wieder leer, wurde aber nicht umgeräumt. In der Zeit, etwas mehr wohl als ein Jahr, habe ich dort geschlafen, und auch meine Kleider hingen dort im Schrank. Als mein Zimmer habe ich es niemals empfunden, habe mich tagsüber nie da aufgehalten und habe auch nie etwas hineingestellt außer vielleicht den Puppenwagen, aber nicht, weil ich mit ihm spielte, sondern damit er aus dem Weg geräumt war, also aus dem allgemeinen engen Wohnbereich. Anderes, das ich hätte hineinstellen können, besaß ich nicht. Die Schulaufgaben machte ich am Schreibtisch des Vaters, und meine wenigen Bücher standen in seinem Bücherschrank. Das Untermieterzimmer war ehemals das Elternschlafzimmer gewesen; das einzige Fenster ging zum Hof, und niemals schien die Sonne hinein. Heimisch fühlte ich mich da nicht, sollte und wollte es auch nicht, weil ja ein nächster Untermieter jederzeit eingewiesen werden konnte.
Mein Vater hat sich mit den reduzierten Wohnverhältnissen schnell arrangiert. Anscheinend konnte er das, der einzelgängerische Bank- und Graphologiemensch. Er hatte sich ja auch mit einem ganzen Krieg arrangiert und war den ihm erteilten Befehlen gefolgt, hatte sich an fremdem Ort eine Arbeit gesucht, und nun in seiner Heimatstadt fand er bald wieder eine, ehe er tatsächlich zur Deutschen Bank zurückkehren konnte, die in Berlin so nicht heißen durfte wegen der Fiktion der gemeinsamen Verwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte, sondern Berliner Disconto Bank hieß.
Ins eheliche Schlafzimmer kehrte er wohl nur zurück, weil es eine andere Schlafmöglichkeit für ihn nicht gab. Sonst habe ich nichts erlebt, das mir erlauben würde, mir das Verhältnis meiner Eltern anders als entfremdet vorzustellen. Niemals habe ich ein Streicheln, eine Umarmung, einen Kuss zwischen ihnen gesehen.
Das Verbindung zwischen meinem Vater und mir aber war zunächst über einige Jahre hin eine enge, in der kindliche Begeisterung für alles, was er tat und was so anders war, als was ich bisher in der Familie kennen gelernt hatte, ihre Rolle spielte, auch meine frühe geistige Wachheit und mein ganz gutes Aussehen gegen Ende der späten Kindheit, so dass ich ihm teilweise die Partnerin ersetzen konnte, die er nie gehabt hatte. Denn ich sehnte mich nach etwas anderem als der Ereignislosigkeit und Dumpfheit, in denen ich bis dahin aufgewachsen war. Nur Schule und Kirche waren andere Lebensformen für mich, jede in ihrer Weise, eine Art von Versprechen deshalb auch, einfach weil es sie gab, dass mein Leben nicht zwangsläufig immer zwischen Streitigkeiten, Rechthabereien und Verboten sich würde abspielen müssen. Und mein Vater fand in mir sicher den verlorenen Sohn wieder. Das konnte ich nicht gewollt haben als das Kind, das ich doch noch war, und konnte es lange nicht mal ahnungsweise erkennen. Ich blieb eine Vatertochter bis in die Pubertät hinein. Danach wurde meine Entfremdung von beiden Elternteilen umfassend, die ihrerseits wie Fremde miteinander umgingen, beinahe stumm.
Des Geigenunterrichts hätte es für das nahe Verhältnis zum Vater gar nicht bedurft. Sogar im Gegenteil, der Unterricht schadete. Die Begeisterung der Sechsjährigen für die schöne Form des Instruments, das sie entdeckt hatte, und ihre anfänglich naive Zuversicht, sie werde einfach lernen, was sie noch nicht konnte, wie das in der Schule für sie so spielerisch leicht war, hatten ja schon Schaden genommen, als ihr selbst das Klavierspiel mit seinen in den Tasten sicher eingebauten Tönen Schwierigkeiten machte. Geigenmusik übrigens kannte sie gar nicht; überhaupt keine Musik. Einen Plattenspieler gab es nicht, und im Radio, noch lange dem billigen Goebbelsschen Propaganda-"Volksempfänger", hörten weder die Mutter noch die untere Familie jemals Musik. Aber sie hatte es dem Vater geschrieben, denn inzwischen konnte sie schreiben in einer ungelenken Erstlingsschrift, dass sie von ihm das Geigenspiel lernen wolle. Er hatte sich gefreut und zugesagt, und so glaubte sie ihre Bitte nicht mehr zurücknehmen zu dürfen.
Was die Tochter nicht hatte wissen können, war, dass es auch auf dem Weg über die Graphologie eine Verbindung zum Vater geben würde, wo sie wirklich so etwas wie seine Mitarbeiterin wurde, und dass sie beide, Vater und Tochter, zusammen etwas erfinden würden, nun ja: nachmachen, eine Sendung des RIAS Berlin, die der Vater "UR-ZI-Sendung" nannte, nach ihrem Namen Ursa Zinke.
Ungetrübt blieb alles nicht, was sie beide zusammen machten, aber sie begannen es mit Begeisterung, vielleicht der Vater, der so spät sein Kind erst kennen lernte, mit noch größerer Freude als die Tochter. Die UR-ZI-Sendung muss von diesen neuen Dingen in der Familie, Graphologie, Geigen- und vermehrtem Klavierunterricht, nun auch vom Vater, die kurzlebigste Veranstaltung gewesen sein. Was geschah dabei? Vater und Tochter überlegten, was sie beide zusammen, einiges auch zusammen mit der Schwester und Tante, der übrigen Familie vortragen konnten. Das waren kleine Klavierstücke (Tante), Stücke für Violine und Klavier (Vater und Tante), auch kleine Stücke für Klavier zu vier Händen (dieselben, aber auch Vater und Tochter), es waren Gedichte, die die Tochter auswendig vortrug. Später dann spielte auch sie kleine Violinstücke, vom Vater begleitet auf dem Klavier, und Vater und Tochter lasen Geschichten aus Büchern vor. Die Tochter schrieb sogar für jedes Treffen einen kleinen Veranstaltungszettel.
Davon hat sich keiner erhalten, obwohl ich sicher bin, diese Zettel gesammelt zu haben. Irgendwann nach meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung, schon in Westberlin, hat man, haben meine Eltern alle meine Unterlagen aus Schule und Universität, die sich noch in ihrer Wohnung befanden, vernichtet, ohne mich zu fragen. Der Bericht der 14-Jährigen über den Umzug nach Westberlin war darunter, ihr erster ernsthafter Schreibversuch, ein "Theaterstück", das sie mit 10 geschrieben hatte und das sogar aufgeführt worden war, ihre Abiturrede und alle Deutschaufsätze. Ein Buch mit den Germanischen Götter- und Heldensagen, das sie als 9-Jährige geerbt hatte und dessen Mythologie, so anders als die christliche, sie faszinierte, hatte ihre Mutter verbrannt, als sie 12 war. Lange begriff sie nicht, dass auch der Vater einverstanden gewesen sein musste.
Am eindrucksvollsten von den UR-ZI-Sendungen blieben in meiner Erinnerung die Gedichte: Rilke, Goethe, Nietzsche, Trakl, nicht Hölderlin. Lange behielt ich auswendig, was ich damals auswendig lernte - und nicht verstand und doch verstand. Heute weiß ich, dass genau dies richtig war: Mir zu lernen zu geben, was die in der Schule gelernten Gedichtlein belanglos erscheinen ließ, Kinderkram, während diese den wunderbaren Geschmack des Geheimnisses enthielten. Nichts hat mich mehr zur liebenden Tochter meines Vaters gemacht als diese Gedichte, Rilkes Karussell und Panther und Herr: Es ist Zeit, Goethes Johanna Sebus, viel mehr aber noch Selige Sehnsucht, Nietzsches Die Krähen schrein. ... und andere. Aber genau an diesem Teil, dem lyrischen, brach die Veranstaltung auseinander. Denn wir brauchten ja Publikum, und das Publikum waren die anderen, die beiden Mütter und, jedenfalls zumeist, auch die Tante. Aber das Publikum merkte die enge Verbindung zwischen den Vortragenden, und es neidete sie, und es kleidete den Neid in Verachtung: Meine Mutter strickte, klapperte mit den Nadeln, ließ Wollknäuel fallen und nicht liegen, meines Vaters Mutter zischte vernehmlich zu ihrer Tochter, dass der Herbert da dem Kind doch viel zu schwere Sachen zumutete. Sie gähnten hörbar, und Hilde, zu beiden Gruppen gehörend, zum Publikum und zu den Vortragenden, gelang es nicht zu vermitteln. Mein Vater sprach scharfe Worte. Nur waren scharfe Worte bloß geeignet, die Situation noch zu verschärfen. Denn es war ja klar: Wir brauchten ein Publikum, das Publikum aber brauchte uns nicht. Im Gegenteil, es langweilte sich und tat die Langeweile kund. Was sollte anderes aus dem allem werden, als dass er und ich weder spielen noch vortragen wollten, vor allem ich nicht; dass es hier zwar einen Anfang gegeben hatte, der aber in dieser Familie nicht fortzuführen war, und dass mein Hass auf meine alles verbietende, alles klein machende Mutter hoch aufloderte. Mir konnte mit neun, mit zehn Jahren nicht klar sein, mit welcher Abmachung, wie ich mutmaße, meine Eltern ihre Ehe geschlossen hatten; mir konnte nicht klar sein, wie der Krieg und die Abwesenheit des Mannes, Sohnes, Vaters in das Leben dieser Familie wie aller Familien eingegriffen hatte (und hier immerhin waren ja weder Leben noch der Verlust von Heimat oder auch nur von wichtigem Besitz zu beklagen); mir konnte nicht klar sein, dass hier die Frauen einer Schwiegerfamilie, selbst von bescheidenem geistigem Zuschnitt, eine Frau gleich bescheidener Ausstattung, die aber ein "Lachtäubchen" gewesen war, in der fremden Stadt im Krieg seelisch allein gelassen und gebrochen hatten. So waren die "UR-ZI-Sendungen", die mein Vater uns erfunden hatte, wohl auch ein Versuch gewesen, die Familie noch einmal einigermaßen zusammenzufügen, auch wohl sein früher innig gewesenes Verhältnis zu seiner Schwester möglichst zu erneuern.
Aber das gelang nicht, und nichts sonst gelang, was schön gewesen wäre, außer eben, einige Jahre lang, zwischen ihm und mir. Oder ich könnte auch sagen: Zu niemandem in dieser viel zu eng aufeinander hockenden Familie war mein Verhältnis so schlecht wie zu meiner Mutter. Denn zusammen mit meiner Tante gab es immerhin die Friedhofsbesuche beim Grab ihres Vaters, meines unbekannten Großvaters. Und bei Großmutter und Tante gab es die ständige Sonnabendabend-Einladung zu Wiener Würstchen und Kartoffelsalat, und ich konnte sie beide immer sehr leicht dazu bewegen, ein wenig von Stargard zu erzählen, allerdings immer dasselbe. Meine Mutter hätte wahrscheinlich liebend gern von ihrer rheinischen Jugend erzählt, aber von ihr wollte ich nichts wissen. Mit dem Trällern von Karnevalsschlagern hörte sie auf, nachdem ich sie spöttisch nachgeahmt hatte.
Mit meinem Vater machte ich drei Besuche in der zerstörten Berliner Innenstadt, die mir tief im Gedächtnis geblieben sind. Diese Besuche erschienen mir schön wie Ausflüge in ein Märchenland, weil es gänzlich ungewöhnlich war, dass sie überhaupt stattfanden, denn eigentlich verließ niemand mit mir die Kuglerstraßengegend. Zugleich waren diese Besuche hoffnungslos bedrückend, weil ich Ruinen ja kaum kannte, und dann doch wieder hoffnungsvoll, weil wir eben dort, inmitten dieser wie tot erscheinenden Innenstadt, das kaufen konnten, was wir brauchten. Im einen Fall war es Papier für die Postwurfsendungen, mit denen der Vater seine graphologischen Gutachten anbot, 1000 Stück auf einmal, wie wir zusammen herstellten. Ich half mit zu falten, in den Umschlag zu stecken, den Brief zuzukleben, die Briefmarke draufzusetzen. Das Papier dafür kaufte er in einer Hinterhoffabrik, die wieder arbeitete. Und ich, die ich doch nur mitgenommen worden war, die ich eindringlich ermahnt worden war, den laufenden Maschinen fern genug zu bleiben, ich durfte andererseits Stapel von Papier anfassen, weißes und zart getöntes, das ist bestimmt wahr, durfte es mit dem Daumen aufblättern und dann wieder zu einem Stapel stauchen. Meine sinnliche Freude am Umgang mit Papier entstand bei diesem Besuch. Und sie war so stark, dass sie mich zu meinem allerersten Schreibversuch anregte, mit dem ich diese sinnliche Freude am Papier zu beschreiben suchte. Ich will annehmen, dass ich den selbst vernichtet habe, weil ich merkte, dass die Worte mein Gefühl nicht annähernd wiedergeben konnten. Vielleicht hat er sich aber doch bei dem erwähnten Theaterstück der 10-Jährigen befunden, das ich, zusammen mit einer Klassenkameradin, im Schulauftrag schrieb. Aufgeführt wurde es sicherlich nicht meinetwegen, sondern weil die andere Monika Reimann war, die Enkelin des westdeutschen KP-Vorsitzenden Max Reimann, dem vielleicht eigentlich diese Aufführung dargebracht werden sollte. Ich stellte die Sonne dar, die im Frühling die Natur zu neuem Leben erweckt.
Dann war ich mit meinem Vater in der daniederliegenden Innenstadt - um eine Geige für mich zu kaufen. Da er entschlossen war, mir Unterricht zu geben, brauchte ich eine, zunächst nur eine Dreiviertelgeige. Wahrscheinlich hat er danach inseriert, und so kamen wir in die Hinterhofwohnung einer alten Frau, die in Ärmlichkeit und Finsternis lebte, der Mann "verschollen", wie die Menschen noch lange sagten, auch wenn sie eigentlich schon 'wussten', dass jemand tot war. Die Kindergeige stammte von einem Sohn, der "gefallen" war, als Hitlerjunge im letzten Aufgebot. Ich erinnere mich noch, dass sie, die sicher sehr einsam lebte, wohl gerne viel erzählt hätte, vor allem natürlich von dem Sohn, der als Kind die Geige gespielt hatte, die sie nun verkaufen musste. Und gern hätte ich länger zugehört, als es die beiden Tassen Kaffee erlaubten, die die Erwachsenen tranken, Muckefuck sicherlich. Aber so war mein Vater auch: Er bezahlte ihr mehr für die Geige, als sie gefordert hatte, aber so schnell es ging, verließen wir die alte Frau. Er hatte wohl schon zuviel Enttäuschungen an Menschen erlitten und weigerte sich seit frühen Jahren, neue kennen zu lernen oder auch nur anzuhören. Wenige waren ihm recht gewesen: der Freund Werner Potrafky, die geliebte Julie, und dann eine Wilma Lembcke in Rendsburg wohl, und ganz spät in seinem Leben ein Bankkollege und Nachbar von schräg gegenüber, der ihn manchmal besuchen durfte und dem er seine graphologischen Gedichte vorlas. Zwei alte Männer saßen dann beisammen, die, sicher ohne dass sie das sagten, einander das Warten auf den Tod ein wenig erleichterten. Zuletzt war ihm noch die Pflegerin seiner letzten Monate recht, Herta Ludwig. Zu ihr hin habe ich einmal ein 'Du' gehört.
Die dritte Art von Besuchen in der Innenstadt, denn diese wiederholten sich, war die schönste: Wir hatten, sorgfältig eingewickelt in Zeitungen, in der Vorweihnachtszeit jeder einige "bunte Teller" dabei und stellten sie in dunklen Hauseingängen auf Treppen. Herbert Zinke, der Einzelgänger seit jeher, der jeder Plauderei abhold war, die er ja hierbei auch vermied, mein Vater, der im Grund seines Herzens sicher ein Ungläubiger war, er setzte zusammen mit seiner Tochter sehr früh im Winter und wohl schon im Jahr seiner Rückkehr vorweihnachtliche Lichter in Ruinenhäuser, in denen vermutlich ja auch Kinder lebten. Nie habe ich ihn mehr geliebt, als wenn wir zusammen diese Gänge machten, 1948, 1949, 1950 mit Sicherheit, vielleicht noch 1951. Auf seine scheue Art war er da vielleicht eine Art Nothelfer. Aber nur nicht sprechen müssen dabei!
Und doch wurde das Verhältnis zu meinem Vater, dem nicht verlorenen, dem tatsächlich zurückgekommenen, der mir innerhalb der Familie das Licht des Geistes angezündet hatte, im Lauf der Jahre eiskalt, und bevor es eiskalt wurde, also doch immerhin beruhigt, ist es durch Höllen von Hass meinerseits und wahrscheinlich unendliche Enttäuschung auf seiner Seite gegangen. Vielleicht bin ich die zweite Liebe seines Lebens gewesen? Mit dem früh, aber eigentlich sanft pubertierenden Mädchen kam er nicht mehr zurecht, das ihn, wie es sein muss, nicht mehr nur bewunderte. Denn es hatte, als es 12 war, in seinem Konfirmandenpastor ein Ideal an Geistigkeit gefunden, vermischt wohl schon damals mit wechselseitigem, wenn auch mir noch kaum fassbaren Begehren. Aber was ich in Johannes' dunklen Augen fand, muss ihm aus meinen dunklen Augen widergestrahlt haben. Und das, denke ich mir, wird auch für meinen Vater in ihnen zu sehen gewesen sein. Das Glück einer verehrenden Liebe, denn die begann damals, ist nicht zu verbergen. Da es eher als diese entstanden war, schützte es auch die im selben Jahr beginnende erst kindliche, dann nicht mehr kindliche Liebe zu Hajo. Und so war die Reaktion des Vaters wohl eine unklare und von ihm aus gar nicht begründbare Eifersucht auf den Pfarrer. Deshalb hatte er auch keinen Beweggrund, mir einen Wechsel des Konfirmandenunterrichts zu verordnen.
Als ich 15 war, habe ich gegen einen längst gefassten Entschluss, dergleichen niemals zu tun, meinem Vater eine flüchtige Verliebtheit mitgeteilt, einen Briefwechsel angekündigt. Diese Mitteilung war, mir völlig klar bewusst, mein letzter Versuch gewesen, Vertrauen zu erwerben, indem ich Vertrauen zeigte. Der Briefwechsel wurde mir verboten. (Ich umging das Verbot mit der Adresse einer Klassenkameradin.) Heute glaube ich, dass mein Vater, der viel zu weit dachte, mich bewahren wollte vor einer Ehe, wie er sie geschlossen hatte, und dass darin sogar noch etwas von seiner Liebe zu mir enthalten war, die aber eine besitzen wollende gewesen sein muss. Danach erfuhren meine Eltern endgültig nichts mehr von meinen Liebesdingen und sonst sowieso und lange schon nur Oberflächliches. Später rannte ich in ein erstes Ehe-Unglück mit einem hochsensiblen Neurotiker, und wir, mein Vater und ich, haben drei Jahre lang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt und danach nur noch einen, in dem er seine bleibende Verletztheit hinter nicht mehr aufzubrechenden Sarkasmen verbarg.
Denke ich aber heute an meinen Vater, der alle seine persönlichen Erinnerungen vor mir vernichtet hat, alle, auch seine Briefe aus den Krieg, so bleibt die schreckliche Äußerlichkeit, dass ich aber die Feldpostnummer weiß, unter der sie geschickt wurden: M (für Marine) 26710. Aber lieber denke ich an den, dem ich auf die Hüfte sprang, als ich ihn auf der Straße vor unserem Haus sah; an den, der mich an meinen Händen fasste und in die Luft schwang, an den, der mich Graphologie gelehrt hat; nicht so gern an den, der mir das Geigespielen beizubringen versucht hat; aber sehr, sehr gern an den, der mir unverständliche Gedichte zugemutet hat im Vertrauen darauf, dass sie mir eben deshalb im Sinn blieben und eines Tages verständlich werden würden; am liebsten aber an den, der mit mir bunte Weihnachtsteller auf dunkle Treppenstufen gestellt hat.
Jetzt beim Schreiben frage ich mich manchmal, ob ich den Geigenunterricht auch dann bekommen hätte, wenn das nicht mein eigener vorwitziger Wunsch gewesen wäre, und glaube: eher nein. Sicher haben Bruder und Schwester ihr Musikmachen als Teil ihrer gemeinsamen Jugend, ihrer gemeinsamen Vergangenheit angesehen, auch als etwas, was sie mit ihrem früh verstorbenen Vater verband, der ihnen gerne zuhörte. Das hat mir die uralte Fiddy erzählt. Die Geschwister hätten das Zusammenspiel nach dem Krieg jedenfalls ohne mich weder aufnehmen können. Das aber hätte in der Familiendynamik bedeutet: Die von außen Gekommene, meine Mutter, wäre wieder ausgeschlossen gewesen. Daher passte es wohl ganz gut, dass ich mir einbildete, ich könne Geige spielen lernen, denn zum mindesten üben konnte ich in unserer Wohnung, allerdings niemals lange. Bald hieß es ja immer: "Die Nachbarn, die Nachbarn".
Und sowieso wurde nichts draus, obwohl sich der Unterricht, einmal angefangen, über nicht weniger als sechs Jahre hinzog. Ich bin ganz einfach musikalisch unbegabt, das ist der wichtigste, der entscheidende Grund. Und bei einem Unterricht des eigenen Vaters konnte aus dem bisschen, was überhaupt werden konnte, nur noch weniger werden, denn einmal ließ er wahrscheinlich vielerlei durchgehen, was ein fremder Lehrer nicht getan hätte, und andererseits übte er selbst nicht. Er spielte vom Blatt, Geige und auch Klavier, und an Beethoven-Sonaten schien er sich zu berauschen. Ich aber habe, aus Mangel an Begabung und bei ihm nicht mehr gelernt, als gedruckte Noten auf dem Instrument wiederzufinden. Und wo sie auf der Geige nun wirklich waren, darüber war ich nie sicher. Das schwierigste, was ich spielte, war die eine der beiden Geigenstimmen zu einem Klavierauszug von Mozarts Kleiner Nachtmusik, wobei die Tante Hilde, auch wohl mehr schlecht als recht, den Klavierpart versah. Jahrelang behielt ich das Trauma, die beiden wären mit Spielen fertig gewesen, ich aber hätte noch drei Takte gespielt. Aber kann das so gewesen sein? Hätten nicht Vater und Tante aufgehört zu spielen, als ich vorweg eilte oder, wer weiß, zurückgeblieben war, es merkte und irgendwas übersprang oder zu überspringen versuchte? Es war jedenfalls nichts mit Zusammenspiel. Ich konnte die anderen Stimmen nicht hören, wenn ich nicht beim Abarbeiten der Noten in der eigenen aus dem Takt kommen sollte. Aber da ich Takt und Rhythmus nicht aus der Musik nahm, die ich hörte, sondern den Takt mit dem Fuß klopfte, konnte das nichts werden. Und je weniger es wurde, um so mehr gaben Vater und Tochter einander die Schuld daran, ohne aber die Kraft zu haben, das scheiternde Projekt so auch zu benennen und aufzugeben.
Das hätte mir jedenfalls ein weiteres, noch schlimmeres Musik-Trauma erspart. Meine Schule in der Scherenbergstraße nämlich und dort meine Musiklehrerin Renate Paschiller und ihr Freund, mein angeschwärmter Deutschlehrer Norbert Rybacki, gründete ein Schulorchester. 1951 oder 1952 mag das gewesen sein. Heute kommt es mir tollkühn vor, denn die Einheitsschule war damals erst 8-klassig, also die ältesten Schülerinnen vierzehn. Immerhin war jedenfalls der Versuch der Orchestergründung möglich. Es gab also in unserer Gegend noch so viel Bürgerlichkeit, dass Kinder privaten Musikunterricht bekamen. Ich wurde zum Mitspielen aufgefordert, ob nach Vorspielen, das weiß ich nicht mehr. Unter den zweiten Geigen saß ich, sagt mein Bildgedächtnis. Natürlich habe ich auch in diesem Kinderorchester auf die Noten gestarrt und nie den Kopf zur Dirigentin erheben können, und ich frage mich, ob ich richtig spielte. Lange habe ich gemeint: So schrecklich daneben müsse ich gespielt haben, dass man mir als Termin einer kleinen Aufführung, für die wir geprobt hatten, absichtlich einen falschen genannt hatte. Denn als ich an einem Sonntag Abend um 18 Uhr mit meiner Geige zur Schule ging, fürchterlich aufgeregt natürlich, da war außer mir kein Mensch zu sehen, der auch dorthin gegangen wäre, und der Hausmeister schloss gerade das Tor. Die Aufführung, sagte er, sei morgens um sechs gewesen. Wahrscheinlich war's ein ruppiger Berliner Hausmeister-Scherz, aber diese Deutung ist mir erst lange danach eingefallen. Mein Vater schrieb der Musiklehrerin einen um Erklärung bittenden Brief, als am nachfolgenden Montag weder sie noch eine der Mitschülerinnen mich gefragt hatten, warum ich zur Aufführung nicht gekommen sei. Die schriftliche Antwort lautete, das "Konzert" sei am Sonnabend Abend gewesen, man habe eine Weile vergeblich auf mich gewartet, und Herr Rybacki habe dann meine Stimme übernommen. Ist es so gewesen? Es klingt wahrscheinlich. Nur ich in meiner Aufregung und Angst hatte mir einen falschen Tag ins Gehirn gesetzt. Über viele Jahre hin habe ich es nicht glauben können, dass der Fehler bei mir lag, und habe an der seelischen Verletzung laboriert. Diese Erinnerung aus der Kinderzeit war, zusammen mit der an die in der Öffentlichkeit der Schule verlorene blutige Binde die, die am längsten brauchte, bis sie mich innerlich nicht mehr verstörte.
Den Musikunterricht aufzugeben, das gelang erst, als wir nach Westberlin gezogen waren und sich dort ein Nachbar fand, der von meinem Geigenspiel gehört hatte und sich anbot, mir kostenlos Unterricht zu geben. Dazu musste ich ihm vorspielen, nicht viel. Denn er hatte zugehört mit mühsam beherrschtem Entsetzen: Die Geige war nicht richtig gestimmt (mein Vater glaubte es noch unmittelbar vor dem Vorspiel getan zu haben); meine Griffe waren allesamt daneben, wie er mir und dem Vater an seinem richtig gestimmten Klavier bewies; an Musikalität und Geist des Spiels fehlte es in jeder Weise. Und es war deutlich, dass das nicht allein an mir lag. Da erst durfte ich aufhören, mit 14 Jahren. - Die beiden Geigen, seine und meine zweite, normal große, habe ich im vorigen Jahr verkauft, mit einiger Wehmut.
Aus meiner Kinderliebe zum zurückgekehrten Vater, der einzigen Person in der Familie, der ich mich verwandt fühlte, wurde ein immer ambivalenteres Verhältnis der pubertierenden und dann ein gänzlich distanziertes der erwachsenen Tochter zu ihm. Er fühlte wohl, dass ich ihm verloren ging. Manchmal muss ich Situationen in der Familie sehr richtig kommentiert haben, so richtig, dass sein Jähzorn ihn überkam und über mich kam und nicht nur seine Hand auf mich losfuhr zu einer Ohrfeige, sondern er mich prügelte in unbeherrschtem Zorn. Aus der Ambivalenz, in der ich die Liebe noch festzuhalten trachtete, deren Verschwinden ich nicht verstand, wurde Hass, als mich der Vater einmal - ich lag auf dem Boden vor seinem/unserem Schreibtisch - schlug, bis die Mutter mich wegzog wie einen geprügelten Hund. Denn auch die teuflische Ausweglosigkeit in meinem Kinder-Leben, erfunden von der Mutter, kannte er sehr wohl: "Hör auf zu heulen, oder es setzt noch mehr."
Unsere graphologische "Zusammenarbeit" hörte natürlich auf über solchem. Für sich hatte der Vater etwas anderes gefunden: eine Verbindung von Graphologie und Gedicht. Denn ähnlich wie er eine gewisse musikalische Begabung ja durchaus hatte, so auch eine "dichterische". Der jambische Rhythmus geriet ihm leicht, und die Reimworte, auf die er nicht verzichtete, fielen ihm nicht zu schwer. Für andere Fälle benutzte er ein Reim-Wörterbuch. Mit dem im Westen beginnenden Wirtschaftswunder wurde die Nachfrage nach graphologischen Deutungen und daran angehängten laienpsychologischen Ratschlägen so gering, dass sich der Aufwand der Postwurfsendungen nicht mehr lohnte. Nun gab es graphologische 'Gutachten' in Form von vier Vierzeilern, gereimt, wie gesagt. Das Material dafür, also die Handschriften, fand er in Büchern, Zeitungen, Zeitschriften. Eine faksimilierte Unterschrift genügte ihm schon. Er schrieb wohl auch beinahe an jeden, der dort irgendwo erwähnt war, und bat um eine Schriftprobe. Er erhielt sie fast immer, ob es nun die Autogrammkarte eines Filmstars war oder ein kurzer Brief eines gerade berühmt Werdenden oder wirklich Berühmten. Auffällig viele, wie mir schien, suchten den Briefaustausch mit ihm. Aber da blieb er der Einzelgänger, der er immer gewesen war. Zu mehr als dem Zuschicken des entstandenen Gedichts verstand er sich nie.
Diese graphologischen Gedichte schrieb ich mit der Schreibmaschine ab und bekam dafür das einzige Geld, das ich als Kind und Jugendliche je von ihm bekommen habe. Das war nicht mehr Zusammenarbeit, sondern Geldverdienen. 50 Pfennig pro Gedicht. Diese Art der Vermischung von "Dichtung" und Graphologie, immer vier Vierzeiler, selten einmal fünf, verschärften den Dissens zwischen dem Graphologen und seiner heranwachsenden, also auch zu Urteilsfähigkeit gelangenden Tochter. Denn gnadenlos las er sie vor, alle, meiner Mutter und mir, ganz einerlei, ob wir (oder ich) den grapho-Bedichteten kannten oder, der häufigere Fall, nicht. Ohne Selbstkritik, wie mir schien, schrieb er über jeden seine 16 oder 20 Verse, ob ihm nur eine Unterschrift vorlag oder eine ganze Textpartie. Er schrieb 16 Verse auch dann, wenn er die Normschrift nicht kannte, nach der einer schreiben gelernt hatte, die englisch-amerikanische zum Beispiel. Er scheute sich nicht einmal, seine 16 Verse zu produzieren, wenn jemand japanisch oder chinesisch schrieb. Den Streit darüber, ob das verantwortbar sei, dass es nicht verantwortbar sei, wie ich meinte, hielt ich durch, solange ich mit ihm, mit meinen Eltern zusammen lebte, und das war bis zum Ende meines Studiums. (Die Gründe dafür will ich hier nicht aufzählen.) Als ich ihn nach dem Studium und den erwähnten drei Jahren Pause wiedersah, las er aus der damals neuesten Produktion vor, als habe es meine Kritik an seinem unwissenschaftlichen Vorgehen und seine Warnung vor der ersten der beiden misslungenen Ehen nie gegeben, als sei in keinem dieser Bereiche irgendetwas zu besprechen. Mir war das recht so. Mein längst resigniertes bloßes "ja" nach jeder Lesung schien ihn nicht zu kränken. Warum nur hat er überhaupt vorgelesen?
Diese Produktion blieb sein Lebensinhalt, als Bruder und Schwester in getrennten Wohnungen, jeder des Lebenspartners durch Tod beraubt, in gewisser Weise an die Intensität des Umgangs miteinander wie in ihrer Jugend wieder anknüpften, täglich telefonierend. Seit ich aus dem Haus war, hatte die Schwester die Gedichte des Bruders aus seiner schwer lesbaren Handschrift in die Schreibmaschine übertragen. Übrigens will ich nicht verhehlen, dass ich die Handschrift meines Vaters geliebt habe wie nur selten eine andere. Schon als Schulkind habe ich sie mühelos lesen können. Und will auch nicht verhehlen, dass der Vater mir die Entscheidung über seinen literarischen Nachlass abgenommen hat. Sie wäre mir schwierig geworden, denn zum Aufbewahren hätte ich mich nicht gern entschlossen, zum Wegwerfen aber auch nicht. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat ihn, diesen sonderbaren Nachlass, nach Beispielen, akzeptiert, und so liegt er an einem der ehrenvollsten Orte, die in Deutschland Nachlässe bewahren. Aber auch das Folgende will ich nicht verhehlen: Es war ein Irrtum. Denn als über Monate keine Bestätigung kam, als ich dann anrief, da hat mein Gesprächspartner gewagt, mir das zu sagen, die Annahme sei ein Irrtum gewesen, und meiner Bewertung "bizarr" hat er erleichtert zugestimmt. Das Verzeichnis der Nachlässe in Marbach, das man im Internet aufrufen kann, enthält den Namen meines Vaters nicht.
Er ist so einsam gestorben, wie er sich gemacht hatte, sitzend auf seinem Ehebett, das ihm wohl keine Freuden geboten hat. Mich hat er darin gezeugt (den Bruder ja auf der Hochzeitsreise). Vielleicht war ihm das eine kleine Freude. Als er mich kennen lernte, hat er mich geliebt, anders sicher als ich ihn, aber sicher geliebt, und das an Stelle seiner Frau, wie das nicht selten ist zwischen Vätern und Töchtern, wenn die Ehen der Eltern leer geworden oder niemals erfüllt gewesen sind. Aber er hat mich, als ich mit der Pubertät ein eigener Mensch zu werden suchte, nicht vertrauensvoll freigeben können, frei auch für Umwege. So hat er mich ganz verloren.
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WEIHNACHTEN:THEOLOGISCHE UND WENIGER THEOLOGISCHE PROBLEME
Das hohe Fest der Liebe wurde bei uns zweimal gefeiert, natürlich, in den beiden Teilfamilien. Schöner war es für Ursa, das Kind, bei der Großmutter. Bei ihr gab es, sobald das in der Nachkriegszeit wieder möglich war, aus Westberlin herbeigebracht, eine Gans, die sie vorzüglich zuzubereiten verstand, und einen üppig behangenen Weihnachtsbaum, der mit dem bei den Eltern meiner bewunderten Kinderfreundin Hilde Heidbrink konkurrieren konnte, den anzusehen und einen üppigen bunten Teller mitzunehmen ich armes Kind alljährlich eingeladen war.
"Oben" bei uns stand ein kleines Bäumchen, möglichst am letzten Tag gekauft, an dem es noch welche zu kaufen gab, weil das die billigsten waren, ein Bäumchen mit schiefen Ästchen, besenartig in seiner Erscheinung, sparsam behängt mit Kugeln, noch sparsamer mit Lametta, mit wenigen Kerzen 'besteckt', die nur für kurze Zeit angezündet wurden. Es stand auf des Vaters nie benutztem Rauchtisch mit der Marmorplatte, auf einer bestickten Weihnachtsdecke, deren Kostbarkeit aber gegen das Tropfen der Kerzen noch mit wiederum einer Decke belegt wurde, so dass die Stickerei gar nicht zu sehen war. Bei der Bescherung unter diesem Baum bekam ich ausschließlich praktische Sachen, auch als das nicht mehr aus schierer Geldnot nötig war. Es war, denke ich, einfach Mangel an Phantasie und Einfühlung der Schenkenden, meiner Mutter, denn mein Vater hatte sich für derlei als gar nicht erst zuständig erklärt. Ich bekam also beispielsweise eine selbstgestrickte Mütze und ebensolche Handschuhe, einen ebensolchen Schal - lange in bunten Ringelmustern, weil sich so die Wollreste aufgeribbelter Sachen am besten verwerten ließen. Auch wenn neue Unterhosen und Unterhemden nötig waren, erschienen sie auf dem oberen Weihnachtstisch, auch Schulhefte und Bleistifte. Meine Eltern schenkten sich nichts. Ob sie sich jemals etwas geschenkt hatten? Ein einziges Mal lag für mich eine Kette bei Unterhosen und Bleistiften. Um die hatte ich gebeten, mit einiger Überwindung. Es reichte nicht einmal zu einem Silberkettchen, sondern es waren irgendwelche bunten Glasperlen, die ich dann bekam, das billigste, schäbigste. Ich habe diese Kette nie getragen. Wahrscheinlich habe ich aber gar nicht erwartet, von meiner Mutter etwas wirklich Schönes zu bekommen, und wollte mir nur beweisen, dass ich Recht hatte.
"Unten" war Weihnachten anders; nun ja: etwas anders. Es war das richtige in meinen Augen, das mit der ganzen Familie. Schon wenn wir kamen, zog der Gänsebratenduft durchs Haus, in dem wohl die wenigsten Mitbewohner ebenfalls eine Gans verzehrten. Neid wird unvermeidlich gewesen sein. Die Tür zur Weihnachtsstube war verschlossen, also dem Wohnzimmer, dem mit den Eichenmöbeln, in dem es längst meines Vaters Schreibtisch und Bücherschrank nicht mehr gab.
Es hieß, es sei das "Christkind", das mich hier "bescherte". Wie denn, also das Jesuskind persönlich? Das Baby aus der Krippe? Anscheinend ja, denn in der Kirche war zu Weihnachten eine Krippe aufgebaut. Und wir Kinder führten da die Weihnachtsgeschichte nach Lukas auf, in jedem Jahr eine andere Gruppe, mit einer Puppe als Christkind. Zu mehr als einem Engel im weißen Bettlaken mit Pappflügeln, darunter festgebunden, und irgendetwas Silbernem auf dem Kopf habe ich es aber leider nie gebracht und wäre doch so gerne einmal Maria gewesen ...
Und wenn nun dieser Jesus das nächste Mal auftauchte im Kirchenjahr, dann feierte er schon ein Abschiedsmahl mit denen, die ihm nachfolgten. Einen Tag später war er tot, auf brutale und schändliche Weise an einem aufgerichteten Kreuz angenagelt und einem gemeinen Sterben überlassen. Warum eigentlich? Denn er war doch "Gottes Sohn". Und wieso hatte Gott einen Sohn? Und dann war dieser "Sohn" "auferstanden", das war zu Ostern, und irgendwann später stieg er auf zu seinem Vater, und das hieß "Himmelfahrt". Und hatte diese ganze Geschichte mit dem Sterben auch noch vorher gewusst und sich nicht davon gemacht. Aber als "Gottes Sohn" durfte er das wohl nicht.
Alle diese Fragen waren natürlich viel zu kompliziert für mich und als Fragen zugleich zu simpel. Aber mit sieben, acht, neun, zehn Jahren hatte ich das Kirchenjahr im Kindergottesdienst schon einige Male erlebt und wusste: so gehörte das hintereinander. Danach kam als Fest noch Pfingsten, das sowieso keiner verstand, und dann kam lange gar nichts Besonderes, und dann ging mit "Advent" schon wieder alles auf Weihnachten zu. Das repetierte ich wahrscheinlich nicht, wenn ich beim Küchenofen auf meine Bescherung wartete, aber hinterher, wenn ich nicht einschlafen konnte. Irgendwann wusste ich leider so viel, dass dieses Jesuskind nach der Bibel nicht nur Gottes Sohn war, sondern als Gottes Sohn identisch war mit dem HERRN Jesus, der für unsere "Sünden" am Kreuz gestorben und dann wieder auferstanden war, und deshalb gab es die Kirche, in die ich ging. Wieso aber konnte ein Herr wie ein Verbrecher hingerichtet werden? Und was für Sünden hatte ich denn schon begangen, dass dafür jemand sterben musste, Gott selber sogar? Hatte der dann nicht etwas schrecklich falsch gemacht mit seiner Schöpfung? War das zu begreifen? Nein, es war zu "glauben". Die Antwort konnte ich mir schon selber geben und ahnte auch, dass es unpassend gewesen wäre, solche Fragen im Kindergottesdienst zu stellen. Zeitweise, als Kind und lange danach noch, habe ich mich um Glauben sehr gemüht. Doch wer stand mir denn dafür ein, dass alles das, was in der Bibel stand, die Wahrheit darstellte? Aber es gelang mir noch lange Zeit immer wieder, diese argwöhnische Frage wegzudrängen. In der Familie wäre sie noch weniger zu stellen gewesen als im Kindergottesdienst.
Also kehren wir wieder zu den Kinderfragen zurück. Da wusste ich nun wenigstens eines ganz sicher, alle anderen Kinder wurden vom "Weihnachtsmann" beschert. Und wie der aussah, davon hatte ich zumindest Postkarten gesehen. Er sah so aus, wie er noch heute aussieht mit rotem Mantel, roter Kapuze mit weißem Besatz, angeklebtem weißem Bart und roten, schwarzen oder weißen Stiefeln, eine Figur, die viele Jahrzehnte überdauert hat und noch immer, wenn dümmste Talks und abgenudelster Sex mal ein paar Stunden nicht zu passen scheinen und Pause haben, seinen Dienst im Fernsehen antritt und Wochen vorher schon in Einkaufszentren etc. Also bei den anderen Kindern brachte dieser die Geschenke, und einige schworen, dass er wirklich bei ihnen in der Wohnung gewesen sei, Zigarrenrauch verströmt habe, und gegen ein aufgesagtes Weihnachtsgedicht hätten sie den Sack leer machen dürfen, den er trug. Freilich drohte er bei bösen Kindern mit einer Rute, die er bei sich hatte. Aber anscheinend schlug er nicht damit.
Nun war aber doch Weihnachten in der ganzen Welt gleichzeitig. So hatte man mir das jedenfalls gesagt. Dass es trotzdem so viele Weihnachtsmänner geben konnte, wie gebraucht wurden, das vermochte ich noch irgendwie zu verstehen. Da zogen sich eben einfach Männer diese Verkleidung an. Eigentlich war das auch schon der Beweis dafür, dass es 'den Weihnachtsmann' nicht gab. Und ich verachtete meine Klassenkameradinnen ja sowieso sehr, die dergleichen glaubten. Aber ich beneidete sie auch, weil sie es so viel einfacher hatten mit ihrem Weihnachtsmann als ich mit meinem Christkind.
Erschwerend kam für mich noch hinzu, dass ich vor allen Jesusgeschichten ein Weihnachtsgedicht auswendig konnte, mit noch nicht drei Jahren. 'Mein' Gedicht begann: "Denkt euch, ich habe das Christkind gesehn!/Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee,/mit rotgefrorenem Näschen." So behielt ich es jedenfalls in der Erinnerung, und mehr Text ist mir später nie wieder eingefallen. Es gibt auch nur noch drei weitere solcher Strophen. Aber Wurzelzwerg ich prunkte damit in der U-Bahn und genoss die Bewunderung der Mitfahrer für mein auswendiges Aufsagen. Dies Christkind hatte mit dem Herrn Jesus anscheinend nichts zu tun, es schlief einen Ganzjahresschlaf im Wald (groß, weit, unfassbar), ließ sich aber angeblich vorher schon hier und da mal sehen und tat dann punktgenau seinen Dienst. Wobei die Frage nach seiner Ubiquität sich natürlich auch stellte und ebenso unbeantwortet blieb.
Dies alles an theologischen Problemen bedeutete aber nicht, dass ich nicht auch ganz einfache Fragen gehabt hätte, oder eigentlich auch keine einfachen, aber jedenfalls näher liegende: Wie kam denn "das Christkind" ins Bescherungszimmer und, noch wichtiger, wie die Geschenke? Mit der Auskunft, es komme schon in der Nacht vor dem Heiligen Abend, begnügte ich mich eine Weile. Und war dann hoch aufgeregt, als die großen Flügeltüren zum Flur sich auftaten, die Kerzen an einem hohen Baum brannten, der bis zur Decke reichte, unter verschiedenen Tüchern Geschenkhäufchen zu vermuten waren und unter einem großen Tuch eine Art von Geschenkberg. Der war für mich.
Doch bis ich ihn erkunden durfte, war ein Ritual zu absolvieren, das über lange Jahre hin mit dem Gedicht vom Christkind aus dem Walde begann. Als ich dann auf der Geige kratzen konnte, begleitete mich mein Vater auf dem Klavier bei einem Weihnachtslied, das alle zusammen in fürchterlicher Weise sangen, falsch und ohne Text. Dem folgte, man glaubt es kaum, die Weihnachtsgeschichte, wie sie im Lukas-Evangelium steht. Das verlangte meine Großmutter so, und sie lesen musste wiederum ich, als ich das konnte, also lesen gelernt hatte. Oder vielleicht konnte ich sie noch vorher auswendig, die Weihnachtsgeschichte? Früher hatte die Großmutter gelesen, auch als die Bescherungen noch ihren Kindern Hilde und Herbert gegolten hatten. Nie betrat sie eine Kirche, nie betrat irgendwer aus meiner Familie eine Kirche, aber die Geschichte vom göttlichen Kind in der Krippe, die musste zu Weihnachten sein. Da war die Großmutter unerbittlich. Schließlich: "O du fröhliche ...". Als ich älter wurde, fragte ich mich jeweils während dieses Ablaufs, welcher Streit wohl am Ende des fröhlichen Weihnachtstages stehen würde. Feiern, das konnte meine Familie nämlich nicht.
Dann durften alle die Geschenke öffnen, d.h. zuerst ich die meinen. Da von meiner Mutter "das Praktische" schon oben bei uns gekommen war, kam von der Großmutter das nicht Praktische, aber nur für mich, das Kind. Spielzeug, durchaus bescheiden über lange Zeit. Puppen waren es mehrfach, die ich bekam. Ich wagte nicht zu sagen, dass ich mit Puppen gar nichts anzufangen wusste, denn wozu sollte ich sie anziehen und ausziehen und spazieren fahren? Wie selig war ich gewesen, als meine Ur-Freundin Hilde Heidbrink mir gestand, dass sie das auch dämlich fand! Aber niemand bemerkte, dass ich mit den Puppen selten oder gar nicht spielte, auch nicht mit der einen Babypuppe, die durch ihre schiere Größe mir denn doch Eindruck machte und für die meine Mutter gewaltige Mengen an Garderobe nähte, häkelte und strickte. Alle diese Sachen blieben aber in einem Schrankfach bei meiner Wäsche liegen wie die Puppe in dem Wagen, den mir auch eines Weihnachtsabends "das Christkind" beschert haben musste, ein sehr teures Geschenk, wie man mir zu verstehen gab. Ein Kind durfte aber natürlich nicht sagen, ihm liege an Puppen und ihren Wagen nichts, schon gar nicht dann, wenn sie teuer gewesen waren. Das Kind musste Freude heucheln, die es nicht empfand, sich mit Umarmungen und Mundküsschen bedanken, die es unappetitlich fand.
Für sich selbst lehnte die Großmutter andere als praktische Geschenke ab. Eisenhart war sie in diesem Ablehnen. Wann der Streit aller Streite stattfand, weiß ich nicht mehr, jedenfalls aber in den auch in Ostberlin schon etwas besser gewordenen Zeiten. Auf Dinge wie dieses, von dem nun die Rede sein wird, konnte nur eine volkseigene Produktion kommen, glaube ich. Denn der Streitgegenstand, das weiß ich wie eingebrannt in die Erinnerung, war ein hölzerner Nussknacker, ein Nussknacker in der Gestalt eines Eichhörnchens und von dessen etwa natürlicher Größe. Es war das Geschenk meiner Familie, d.h. meiner Mutter, da sich ja mein Vater um dergleichen nicht kümmerte, für meine Großmutter und Tante, ein Geschenk, das nach den Vorstellungen der Großmutter der Inbegriff eines unpraktischen war, und unpraktisch, verdammt noch mal, ist es auch wirklich gewesen, eins von diesen Geschenken, wie es nur verschenkt wird, wenn Schenken nichts als Verpflichtung und kein Mut vorhanden ist zu sagen: man habe nichts gefunden. Das Eichhörnchen war also dazu da, die Nüsse zu knacken, die ihm ins Mäulchen gestopft wurden, in zwei verschieden großen Mulden Haselnüsse und Walnüsse. Zu diesem Zweck war der Schwanz beweglich. Wenn man ihn nach unten drückte, sollte er die Nuss gegen den Oberkiefer des Eichhörnchens drücken und auf diese Weise knacken. Nur: Es funktionierte nicht. Es funktionierte nicht an jenem heiligen Weihnachtsabend und funktionierte auch niemals später, wenn ich es heimlich nochmals versuchte. Denn da niemand erkannte, dass dies groteske Geschenk schon aus Verzweiflung und aus Feigheit gekauft worden war, da anscheinend auch niemand das Komische daran sehen konnte, löste sich die missglückte Schenkerei nicht in Lachen auf, sondern Schwiegermutter und Schwiegertochter verhakten sich in einem bitterbösen Streit darüber, was man jedenfalls nicht zu schenken habe, bis mein Vater seiner Familie befahl, mit ihm in die obere Wohnung zu gehen. O du fröhliche!
Das Kind hatte so nachdrücklich wie niemals sonst vorgeführt bekommen, was man eigentlich vor ihm zu verbergen suchte: dass nämlich seine Familie von unerträglicher Dummheit und Lieblosigkeit war, dass aber sein Vater, der einzige, für den das, beides, nicht galt, nichts anderes zu tun wusste, als sich von ihr zu isolieren und an den einzigen Ort zu fliehen, wo er allein sein konnte, seinen Schreibtisch, und zu der einzigen Tätigkeit, die ihn die familiäre Umwelt vergessen ließ, der Graphologie. Das war nach den misslungenen UR-ZI-Sendungen.
Dabei war doch der Vater es gewesen, der die Grundkonstellation zwischen seiner Mutter und seiner Ehefrau arrangiert oder jedenfalls nicht vermieden hatte, um seines Arbeitszimmers willen, wie ich ja glaube. Diese Konstellation war die Urzelle der Nussknacker-Suite, die mit seiner Eheschließung begonnen hatte und erst mit dem Tod beider Frauen im selben Jahr, 1980, endete.
Aber die Weihnachtsgeschichte Zinke ist noch nicht zu Ende. Denn am ersten Weihnachtsfeiertag nach dem Nussknacker-Eklat wurde ich gebraucht, damit der Sohn sich bei seiner Mutter für seine Ehefrau entschuldigen konnte. Nur so war es möglich. Dass die Tochter der Alten, die Schwester, Schwägerin und Tante also auch, zur Entschuldigung für ihre Mutter in die obere Wohnung heraufstieg, war anscheinend unmöglich oder gar: dass die störrische Alte etwas eingesehen hätte. Also wurde eine oberflächliche Versöhnung arrangiert, die im Beisein des Kindes nicht verweigert werden konnte. Geklärt wurde nichts, eine Einladung zur Abendgans wurde ausgesprochen und der Nussknacker mir in den Arm gedrückt. Ich stellte ihn erst ins Büfett, später, als er auch mir seine völlige Untauglichkeit erwiesen hatte, in den Keller. Dort wurde er zeitweise vergessen. Nach Westberlin zog er nicht mehr mit. Wo er aber blieb, das weiß ich nicht. Er könnte sein Ende in einer Mülltonne gefunden haben.
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"Oben" bei uns stand ein kleines Bäumchen, möglichst am letzten Tag gekauft, an dem es noch welche zu kaufen gab, weil das die billigsten waren, ein Bäumchen mit schiefen Ästchen, besenartig in seiner Erscheinung, sparsam behängt mit Kugeln, noch sparsamer mit Lametta, mit wenigen Kerzen 'besteckt', die nur für kurze Zeit angezündet wurden. Es stand auf des Vaters nie benutztem Rauchtisch mit der Marmorplatte, auf einer bestickten Weihnachtsdecke, deren Kostbarkeit aber gegen das Tropfen der Kerzen noch mit wiederum einer Decke belegt wurde, so dass die Stickerei gar nicht zu sehen war. Bei der Bescherung unter diesem Baum bekam ich ausschließlich praktische Sachen, auch als das nicht mehr aus schierer Geldnot nötig war. Es war, denke ich, einfach Mangel an Phantasie und Einfühlung der Schenkenden, meiner Mutter, denn mein Vater hatte sich für derlei als gar nicht erst zuständig erklärt. Ich bekam also beispielsweise eine selbstgestrickte Mütze und ebensolche Handschuhe, einen ebensolchen Schal - lange in bunten Ringelmustern, weil sich so die Wollreste aufgeribbelter Sachen am besten verwerten ließen. Auch wenn neue Unterhosen und Unterhemden nötig waren, erschienen sie auf dem oberen Weihnachtstisch, auch Schulhefte und Bleistifte. Meine Eltern schenkten sich nichts. Ob sie sich jemals etwas geschenkt hatten? Ein einziges Mal lag für mich eine Kette bei Unterhosen und Bleistiften. Um die hatte ich gebeten, mit einiger Überwindung. Es reichte nicht einmal zu einem Silberkettchen, sondern es waren irgendwelche bunten Glasperlen, die ich dann bekam, das billigste, schäbigste. Ich habe diese Kette nie getragen. Wahrscheinlich habe ich aber gar nicht erwartet, von meiner Mutter etwas wirklich Schönes zu bekommen, und wollte mir nur beweisen, dass ich Recht hatte.
"Unten" war Weihnachten anders; nun ja: etwas anders. Es war das richtige in meinen Augen, das mit der ganzen Familie. Schon wenn wir kamen, zog der Gänsebratenduft durchs Haus, in dem wohl die wenigsten Mitbewohner ebenfalls eine Gans verzehrten. Neid wird unvermeidlich gewesen sein. Die Tür zur Weihnachtsstube war verschlossen, also dem Wohnzimmer, dem mit den Eichenmöbeln, in dem es längst meines Vaters Schreibtisch und Bücherschrank nicht mehr gab.
Es hieß, es sei das "Christkind", das mich hier "bescherte". Wie denn, also das Jesuskind persönlich? Das Baby aus der Krippe? Anscheinend ja, denn in der Kirche war zu Weihnachten eine Krippe aufgebaut. Und wir Kinder führten da die Weihnachtsgeschichte nach Lukas auf, in jedem Jahr eine andere Gruppe, mit einer Puppe als Christkind. Zu mehr als einem Engel im weißen Bettlaken mit Pappflügeln, darunter festgebunden, und irgendetwas Silbernem auf dem Kopf habe ich es aber leider nie gebracht und wäre doch so gerne einmal Maria gewesen ...
Und wenn nun dieser Jesus das nächste Mal auftauchte im Kirchenjahr, dann feierte er schon ein Abschiedsmahl mit denen, die ihm nachfolgten. Einen Tag später war er tot, auf brutale und schändliche Weise an einem aufgerichteten Kreuz angenagelt und einem gemeinen Sterben überlassen. Warum eigentlich? Denn er war doch "Gottes Sohn". Und wieso hatte Gott einen Sohn? Und dann war dieser "Sohn" "auferstanden", das war zu Ostern, und irgendwann später stieg er auf zu seinem Vater, und das hieß "Himmelfahrt". Und hatte diese ganze Geschichte mit dem Sterben auch noch vorher gewusst und sich nicht davon gemacht. Aber als "Gottes Sohn" durfte er das wohl nicht.
Alle diese Fragen waren natürlich viel zu kompliziert für mich und als Fragen zugleich zu simpel. Aber mit sieben, acht, neun, zehn Jahren hatte ich das Kirchenjahr im Kindergottesdienst schon einige Male erlebt und wusste: so gehörte das hintereinander. Danach kam als Fest noch Pfingsten, das sowieso keiner verstand, und dann kam lange gar nichts Besonderes, und dann ging mit "Advent" schon wieder alles auf Weihnachten zu. Das repetierte ich wahrscheinlich nicht, wenn ich beim Küchenofen auf meine Bescherung wartete, aber hinterher, wenn ich nicht einschlafen konnte. Irgendwann wusste ich leider so viel, dass dieses Jesuskind nach der Bibel nicht nur Gottes Sohn war, sondern als Gottes Sohn identisch war mit dem HERRN Jesus, der für unsere "Sünden" am Kreuz gestorben und dann wieder auferstanden war, und deshalb gab es die Kirche, in die ich ging. Wieso aber konnte ein Herr wie ein Verbrecher hingerichtet werden? Und was für Sünden hatte ich denn schon begangen, dass dafür jemand sterben musste, Gott selber sogar? Hatte der dann nicht etwas schrecklich falsch gemacht mit seiner Schöpfung? War das zu begreifen? Nein, es war zu "glauben". Die Antwort konnte ich mir schon selber geben und ahnte auch, dass es unpassend gewesen wäre, solche Fragen im Kindergottesdienst zu stellen. Zeitweise, als Kind und lange danach noch, habe ich mich um Glauben sehr gemüht. Doch wer stand mir denn dafür ein, dass alles das, was in der Bibel stand, die Wahrheit darstellte? Aber es gelang mir noch lange Zeit immer wieder, diese argwöhnische Frage wegzudrängen. In der Familie wäre sie noch weniger zu stellen gewesen als im Kindergottesdienst.
Also kehren wir wieder zu den Kinderfragen zurück. Da wusste ich nun wenigstens eines ganz sicher, alle anderen Kinder wurden vom "Weihnachtsmann" beschert. Und wie der aussah, davon hatte ich zumindest Postkarten gesehen. Er sah so aus, wie er noch heute aussieht mit rotem Mantel, roter Kapuze mit weißem Besatz, angeklebtem weißem Bart und roten, schwarzen oder weißen Stiefeln, eine Figur, die viele Jahrzehnte überdauert hat und noch immer, wenn dümmste Talks und abgenudelster Sex mal ein paar Stunden nicht zu passen scheinen und Pause haben, seinen Dienst im Fernsehen antritt und Wochen vorher schon in Einkaufszentren etc. Also bei den anderen Kindern brachte dieser die Geschenke, und einige schworen, dass er wirklich bei ihnen in der Wohnung gewesen sei, Zigarrenrauch verströmt habe, und gegen ein aufgesagtes Weihnachtsgedicht hätten sie den Sack leer machen dürfen, den er trug. Freilich drohte er bei bösen Kindern mit einer Rute, die er bei sich hatte. Aber anscheinend schlug er nicht damit.
Nun war aber doch Weihnachten in der ganzen Welt gleichzeitig. So hatte man mir das jedenfalls gesagt. Dass es trotzdem so viele Weihnachtsmänner geben konnte, wie gebraucht wurden, das vermochte ich noch irgendwie zu verstehen. Da zogen sich eben einfach Männer diese Verkleidung an. Eigentlich war das auch schon der Beweis dafür, dass es 'den Weihnachtsmann' nicht gab. Und ich verachtete meine Klassenkameradinnen ja sowieso sehr, die dergleichen glaubten. Aber ich beneidete sie auch, weil sie es so viel einfacher hatten mit ihrem Weihnachtsmann als ich mit meinem Christkind.
Erschwerend kam für mich noch hinzu, dass ich vor allen Jesusgeschichten ein Weihnachtsgedicht auswendig konnte, mit noch nicht drei Jahren. 'Mein' Gedicht begann: "Denkt euch, ich habe das Christkind gesehn!/Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee,/mit rotgefrorenem Näschen." So behielt ich es jedenfalls in der Erinnerung, und mehr Text ist mir später nie wieder eingefallen. Es gibt auch nur noch drei weitere solcher Strophen. Aber Wurzelzwerg ich prunkte damit in der U-Bahn und genoss die Bewunderung der Mitfahrer für mein auswendiges Aufsagen. Dies Christkind hatte mit dem Herrn Jesus anscheinend nichts zu tun, es schlief einen Ganzjahresschlaf im Wald (groß, weit, unfassbar), ließ sich aber angeblich vorher schon hier und da mal sehen und tat dann punktgenau seinen Dienst. Wobei die Frage nach seiner Ubiquität sich natürlich auch stellte und ebenso unbeantwortet blieb.
Dies alles an theologischen Problemen bedeutete aber nicht, dass ich nicht auch ganz einfache Fragen gehabt hätte, oder eigentlich auch keine einfachen, aber jedenfalls näher liegende: Wie kam denn "das Christkind" ins Bescherungszimmer und, noch wichtiger, wie die Geschenke? Mit der Auskunft, es komme schon in der Nacht vor dem Heiligen Abend, begnügte ich mich eine Weile. Und war dann hoch aufgeregt, als die großen Flügeltüren zum Flur sich auftaten, die Kerzen an einem hohen Baum brannten, der bis zur Decke reichte, unter verschiedenen Tüchern Geschenkhäufchen zu vermuten waren und unter einem großen Tuch eine Art von Geschenkberg. Der war für mich.
Doch bis ich ihn erkunden durfte, war ein Ritual zu absolvieren, das über lange Jahre hin mit dem Gedicht vom Christkind aus dem Walde begann. Als ich dann auf der Geige kratzen konnte, begleitete mich mein Vater auf dem Klavier bei einem Weihnachtslied, das alle zusammen in fürchterlicher Weise sangen, falsch und ohne Text. Dem folgte, man glaubt es kaum, die Weihnachtsgeschichte, wie sie im Lukas-Evangelium steht. Das verlangte meine Großmutter so, und sie lesen musste wiederum ich, als ich das konnte, also lesen gelernt hatte. Oder vielleicht konnte ich sie noch vorher auswendig, die Weihnachtsgeschichte? Früher hatte die Großmutter gelesen, auch als die Bescherungen noch ihren Kindern Hilde und Herbert gegolten hatten. Nie betrat sie eine Kirche, nie betrat irgendwer aus meiner Familie eine Kirche, aber die Geschichte vom göttlichen Kind in der Krippe, die musste zu Weihnachten sein. Da war die Großmutter unerbittlich. Schließlich: "O du fröhliche ...". Als ich älter wurde, fragte ich mich jeweils während dieses Ablaufs, welcher Streit wohl am Ende des fröhlichen Weihnachtstages stehen würde. Feiern, das konnte meine Familie nämlich nicht.
Dann durften alle die Geschenke öffnen, d.h. zuerst ich die meinen. Da von meiner Mutter "das Praktische" schon oben bei uns gekommen war, kam von der Großmutter das nicht Praktische, aber nur für mich, das Kind. Spielzeug, durchaus bescheiden über lange Zeit. Puppen waren es mehrfach, die ich bekam. Ich wagte nicht zu sagen, dass ich mit Puppen gar nichts anzufangen wusste, denn wozu sollte ich sie anziehen und ausziehen und spazieren fahren? Wie selig war ich gewesen, als meine Ur-Freundin Hilde Heidbrink mir gestand, dass sie das auch dämlich fand! Aber niemand bemerkte, dass ich mit den Puppen selten oder gar nicht spielte, auch nicht mit der einen Babypuppe, die durch ihre schiere Größe mir denn doch Eindruck machte und für die meine Mutter gewaltige Mengen an Garderobe nähte, häkelte und strickte. Alle diese Sachen blieben aber in einem Schrankfach bei meiner Wäsche liegen wie die Puppe in dem Wagen, den mir auch eines Weihnachtsabends "das Christkind" beschert haben musste, ein sehr teures Geschenk, wie man mir zu verstehen gab. Ein Kind durfte aber natürlich nicht sagen, ihm liege an Puppen und ihren Wagen nichts, schon gar nicht dann, wenn sie teuer gewesen waren. Das Kind musste Freude heucheln, die es nicht empfand, sich mit Umarmungen und Mundküsschen bedanken, die es unappetitlich fand.
Für sich selbst lehnte die Großmutter andere als praktische Geschenke ab. Eisenhart war sie in diesem Ablehnen. Wann der Streit aller Streite stattfand, weiß ich nicht mehr, jedenfalls aber in den auch in Ostberlin schon etwas besser gewordenen Zeiten. Auf Dinge wie dieses, von dem nun die Rede sein wird, konnte nur eine volkseigene Produktion kommen, glaube ich. Denn der Streitgegenstand, das weiß ich wie eingebrannt in die Erinnerung, war ein hölzerner Nussknacker, ein Nussknacker in der Gestalt eines Eichhörnchens und von dessen etwa natürlicher Größe. Es war das Geschenk meiner Familie, d.h. meiner Mutter, da sich ja mein Vater um dergleichen nicht kümmerte, für meine Großmutter und Tante, ein Geschenk, das nach den Vorstellungen der Großmutter der Inbegriff eines unpraktischen war, und unpraktisch, verdammt noch mal, ist es auch wirklich gewesen, eins von diesen Geschenken, wie es nur verschenkt wird, wenn Schenken nichts als Verpflichtung und kein Mut vorhanden ist zu sagen: man habe nichts gefunden. Das Eichhörnchen war also dazu da, die Nüsse zu knacken, die ihm ins Mäulchen gestopft wurden, in zwei verschieden großen Mulden Haselnüsse und Walnüsse. Zu diesem Zweck war der Schwanz beweglich. Wenn man ihn nach unten drückte, sollte er die Nuss gegen den Oberkiefer des Eichhörnchens drücken und auf diese Weise knacken. Nur: Es funktionierte nicht. Es funktionierte nicht an jenem heiligen Weihnachtsabend und funktionierte auch niemals später, wenn ich es heimlich nochmals versuchte. Denn da niemand erkannte, dass dies groteske Geschenk schon aus Verzweiflung und aus Feigheit gekauft worden war, da anscheinend auch niemand das Komische daran sehen konnte, löste sich die missglückte Schenkerei nicht in Lachen auf, sondern Schwiegermutter und Schwiegertochter verhakten sich in einem bitterbösen Streit darüber, was man jedenfalls nicht zu schenken habe, bis mein Vater seiner Familie befahl, mit ihm in die obere Wohnung zu gehen. O du fröhliche!
Das Kind hatte so nachdrücklich wie niemals sonst vorgeführt bekommen, was man eigentlich vor ihm zu verbergen suchte: dass nämlich seine Familie von unerträglicher Dummheit und Lieblosigkeit war, dass aber sein Vater, der einzige, für den das, beides, nicht galt, nichts anderes zu tun wusste, als sich von ihr zu isolieren und an den einzigen Ort zu fliehen, wo er allein sein konnte, seinen Schreibtisch, und zu der einzigen Tätigkeit, die ihn die familiäre Umwelt vergessen ließ, der Graphologie. Das war nach den misslungenen UR-ZI-Sendungen.
Dabei war doch der Vater es gewesen, der die Grundkonstellation zwischen seiner Mutter und seiner Ehefrau arrangiert oder jedenfalls nicht vermieden hatte, um seines Arbeitszimmers willen, wie ich ja glaube. Diese Konstellation war die Urzelle der Nussknacker-Suite, die mit seiner Eheschließung begonnen hatte und erst mit dem Tod beider Frauen im selben Jahr, 1980, endete.
Aber die Weihnachtsgeschichte Zinke ist noch nicht zu Ende. Denn am ersten Weihnachtsfeiertag nach dem Nussknacker-Eklat wurde ich gebraucht, damit der Sohn sich bei seiner Mutter für seine Ehefrau entschuldigen konnte. Nur so war es möglich. Dass die Tochter der Alten, die Schwester, Schwägerin und Tante also auch, zur Entschuldigung für ihre Mutter in die obere Wohnung heraufstieg, war anscheinend unmöglich oder gar: dass die störrische Alte etwas eingesehen hätte. Also wurde eine oberflächliche Versöhnung arrangiert, die im Beisein des Kindes nicht verweigert werden konnte. Geklärt wurde nichts, eine Einladung zur Abendgans wurde ausgesprochen und der Nussknacker mir in den Arm gedrückt. Ich stellte ihn erst ins Büfett, später, als er auch mir seine völlige Untauglichkeit erwiesen hatte, in den Keller. Dort wurde er zeitweise vergessen. Nach Westberlin zog er nicht mehr mit. Wo er aber blieb, das weiß ich nicht. Er könnte sein Ende in einer Mülltonne gefunden haben.
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